Das Buch hat mich nicht mit einem ersten Satz oder einem ersten Absatz gefangen, tatsächlich lagen Monate und ein ganze Reiher anderer Bücher zwischen dem Lesen der ersten Absätze und dem Lesen des ganzen Buches. Und doch ein großartiges Buch!
Hans und Rachel sind, was man in den USA ein „Powerpaar“ nennt: Er, Analyst bei einer großen Bank; sie, Rechtsanwältin bei einer großen Kanzelei. Ihre „Assets“ machen sie, zumal in der Umgebung, nicht zu den Superreichen, aber mit gut über einer Million kommt auch nirgends Not oder materielle Sorge ins Spiel. Beide kommen aus satten bürgerlichen Verhältnissen: Sie ist Engländerin und kommt aus einer traditionellen „Tory-Familie“, er ist Niederländer und in seiner Ecke des Bürgertums verbindet sich die Vorliebe für England nicht nur mit Fussball, sondern auch mit einer Begeisterung für Cricket! Über Generationen gehören die Familien dieses Mileus zum selben Cricket-Club.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 muss die Familie ihr Apartment verlassen und zieht ins legendäre Chelsea Hotel. Rachel empfindet eine dauernde Angst, erträgt die Stimmung in den USA nicht mehr, die Bush-Regierung, den Irak-Krieg, sie zieht mit dem Sohn zurück nach England, wohnt bei den Eltern und sucht sich Arbeit als Rechtsanwältin bei einer NGO. Hans fliegt mehr oder weniger regelmäßig alle zwei Wochen zu Besuch. Langsam entfernen sich die Partner voneinander, aber ihr beider Verhältnis zu dem kleinen Sohn (zu Beginn 2 Jahre) ist sehr innig und deshalb bleiben die Kontakte.
Hans erzählt die Geschichte in Ich-Form. Er ist ein leicht distanzierter Mensch, im Beruf ein Analyst eben, und nicht der involvierte, engagierte Broker. Er erzählt teilweise streng an den Ereignissen entlang, rekapituliert die „wörtliche Rede“, teilweise lässt er sich in Erinnerungen treiben, Zeitebenen verschieben sich; der frühe Tod des Vaters, das gute Verhältnis zur Mutter, ihr Besuch in New York, ihr Tod. Ist er authentisch oder ist zu entfernt von allem?
Durch einen Zufall erfährt er von einem Cricket Club in New York. Nun ist in den USA Baseball die große Sache. Cricket ist das Spiel von Einwanderern aus Indien, Pakistan, Südafrika, Sri Lanka und der Karibik. Hans fängt wieder an zu spielen und lernt dabei Chuck kennen. Chuck ist ein Einwanderer aus Trinidad, seit Jahrzehnten in den USA und ist ein Charismatiker, „bigger than life“, betreibt zig Geschäfte, einige sehr undurchsichtig, Vogelkenner, Geschichtskenner, kurz der ultimativer Erklärer von allem für alle. Ob gefragt oder nicht. Chuck ist nicht nur immer mittendrin, er ist der Initiator, der unermüdliche Antreiber, ein Macher. Sein großes Projekt: ein Cricket-Stadium in New York für den Weltcup, und die Immigranten (soweit halten das alle für realisierbar) und er möchte damit die Amerikaner für das Cricket gewinnen (das halten alle für Tagträumerei).
Sie freunden sich an, weil sie unausgesprochen die gegenseitige Verlorenheit und Einsamkeit und die daraus herrührende Bedürftigkeit erkennen.
Hans gewinnt im Hotel Chelsea und an der Seite Chucks, im Pendeln zwischen New York und London, Perspektiven auf die Welt die er vorher nicht hatte. Der Autor öffnet dem Leser diese Welt in großartiger Weise.
Das ganze ist glänzend geschrieben. Es schält sich nach und nach heraus: wir reden mit Sätzen und Wörtern, das ist aber nur ein ganz kleiner Teil von dem was wir uns sagen. Die Freundschaft, die nie ausgesprochen wird und die lange rein zweckmäßig aussah, berührt mehr als eingestanden. Die Partner, die auseinaderzudriften schienen, sind eine tiefer verbunden als in den alltäglichen Auseinandersetzungen
eingestanden.
Deutsch: Joseph O'Neill: „Niederland“.
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl.
Die Urheberrechte für alle Grafiken, Bilder, Texte liegen bei Thomas Frank
All rights reserved 2021 by Thomas Frank
Nein, nicht
OK
OK