Veröffentlicht 4.4.2021, bearbeitet 11.2.2022
Tatatatata. Was ist das für eine Musik? Dadadadad… ein extrem lauter Fernseher? — klingt eher nach Party. So laut kann doch niemand den Fernseher aufdrehen. Party im Krankenaus? Das kann nicht sein. Hier im Krankenhaus wäre die ganze Station wach, da würde doch jemand einschreiten, das Ding leiser drehen oder die Party beenden. Das Klinikgelände ist groß, mit vielen Gebäuden. So laut - das müssen Leute im Freien sein. Vor dem Haus ist ein kleiner Park. Sitzen da Kranke in Bademänteln rauchend um einen Ghettoblaster? Aus welcher Richtung kommt der Lärm? Schräg zur Seite ist eine Reha-Klinik. Geht Reha-Klinik und Party zusammen? Eher als Krankenhaus und Party oder Transplantationszentrum und Party. Klar, da ist eine Party im Reha-Zenturm. Ein dösiger, fixer Gedanke beruhigt: Party im Reha-Zentrum, das ist schön. Muss eine erfolgreiche Reha sein. Die Musik verschiebt sich - ist das jetzt ein Chor? Im Vordergrund ein Rhythmus, dahinter ein Chor. Chor mit viel Hall, ein bisschen pathetisch. Ruft da jemand was oder ist das arabischer Rap? Ja, klingt wie Rap. Eine lauter Stimme über dem ganzen, auch mit Hall. Sehr viel Hall, sehr pathetisch. Schon so lange. Das geht schon ewig so. Die müssen doch mal Schluß machen. War da nicht schon gestern Abend Party? Eine schwache Erinnerung an gestern oder nur geträumt? Ist das Reha-Zentrum eine Party-Anlage? Das ist es zuviel. Das kann nicht sein. Ich drehe mich langsam im Bett, schiebe die Beine über die Kante, Füße vorsichtig aufsetzen, greife den Infusionsständer und schlürfe zum Fenster. Im ziemlich dunklen Park kann ich nichts erkennen, auch das Reha-Zentrum liegt im Dunklen. Kein Licht. Kein erleuchtetes Fenster. Ich ziehe das Fenster auf und sofort ist klar: Mein Tinnitus hat neue Frequenzen entwickelt. Fenster offen oder geschlossen, es ändert nichts am Krach. Völlig überrascht. Das klang so echt. Ich werde das Krankenhaus nicht nur mit einer neuen Niere verlassen, sondern auch mit einer neuen Tinnitusvariante
Komisch, dass ich vor dem Öffnen des Fensters nicht an den Tinnitus gedacht hatte. So blitzartig wir mit die Ursache des Kraches klar wurde, war mit unverständlich, wie ich daran hatte herumrätseln können. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass ich ein Fenster öffnete, um zu entdecken von wo der Lärm kommt und erfahren musste, dass es mein ganz eigener ist. Mein eigener Krach, nur für mich. Nicht immer war ich überrascht, manchmal hatte ich nur die Bestätigung einer Befürchtung gesucht.
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Des öfteren sehe ich in die Küche und Bad nach, ob ein Hahn läuft oder tropft. Rauschendes Wasser und gelegentliches Klopfen gehören seit langem zum Repertoire meines Tinnitus.
Einmal ist es tatsächlich andersrum ausgegangen: Beim Checken eines neuen Rauschens war mir auf den Weg von der Küche ins Bad und zurück aufgefallen, dass es schwächer und kräftiger wurde. Ich entfernte mich also von der Quelle des Geräusches oder kam ihr näher, je nachdem. In Küche und Bad rauschte nichts. War es im Flur nahe der Tür etwas lauter? Etwas leiser und etwas lauter sind nicht einfach zu unterscheiden. Schritte in Richtung Wohnungstür und wirklich, das Wasserrauschen hatte eine Quelle außerhalb meines Kopfes!
Das Treppenhaus, wie ein Wildbach. Meine Türschwelle war zu einem flachen Ufer geworden. Über die Breite der Treppe und durch den Lichtkanal strömte das Wasser an mir vorbei ins Souterrain.
Der neue Mieter über mir hatte irgendwas am Haupthahn in der in der Küche abgebrochen. Das Wasser spritzte, er stemmte sich mit zusammengedrückter Wäsche dagegen. Auf dem Boden lag eine Riesenzange, er hatte offensichtlich aufgegeben damit rumzuschrauben. Die Küche stand unter Wasser. So weit ich ins Wohnzimmer und in den Flur sehen konnte, ragten auf dem Boden verteilte Textilien wie kleine Inseln aus dem Wasser. Aussichtslos kämpfte die Frau mit Wischmop und Eimer.
Der Hausmeister dirigierte uns per Telefon in den Keller zum Haupthahn. Wir drehten das Wasser für das Haus ab.
Wie lange hatte ich es rauschen hören, bevor ich der Ursache des Geräusches nachging? Wie lange hatten die beiden hilflos hantiert ohne auf die Idee zu kommen, bei anderen Mietern zu klingeln oder den Hausmeister anzurufen? Im Souterrain bedeckte das Wasser den Boden, leckte an den Türen zu Kellern und Wohnungen. In meinem Wohnzimmer lief es an der Stirnseite, die am weitesten von der Wohnungstür entfernt ist, die Wand herunter.
Nach und nach kamen die anderen Bewohner nach Hause und aus allen 7 oder 8 Wohnungen halfen Leute oder boten als Spätheimkommende noch ihre Hilfe an. Zwei Stunden waren wir beschäftigt; wischen, wringen, Eimer auskippen und wieder von vorn.
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Das erste Pfeifen im Ohr interpretierte ich als direkte Reaktion auf eine Operation mit anschließenden Entzündungen. Vielleicht zu kurzschlüssig. Das war Mitte der 90ger Jahre. Aus dem Pfeifen ist ein Zischen, Schleifen, Rauschen, Klopfen und manchmal einfach Krawall geworden. Mein Tinnitus ist vielfältig. Eine veränderte Tonlage oder Lautstärke, ein ruhigeres Rauschen oder ein chaotischeres Lärmen kann ich nicht mit körperlichen Zuständen, mit Stimmungen oder äußeren Einflüssen verbinden. Hat der Blutruck etwas damit zu tun? Ja, dann nein, dann vielleicht. Die Medikation? Ja, nein, vielleicht. Müde oder frisch, gerade aufgeweckt oder kurz vor dem Einschlafen? Ich kann keine Regelmäßigkeit erkennen. Die zunehmende Schwerhörigkeit? Vielleicht ein bisschen, doch wahrscheinlich. Fast 25 Tinnitus-Jahre haben mich nicht gelehrt, was, nach welcher Aktion, nach welchem Erleben von ihm zu erwarten ist. Im Nachhinein scheint der neu lärmende Tinnitus direkt nach der Nierentransplantation als ein Zusammenspiel von Streß und Tinnitus überzeugend. Aber zu der Zeit traf mich die neue Tongestalt so unvorbereitet, dass es mir vor dem Aufziehen des Fensters nicht in den Sinn gekommen war, sie mit dem Tinnitus in Verbindung zu bringen.
Der Tinnitus ist frei und immer wieder überraschend.
Der Tinnitus ist hartnäckig.
Der Tinnitus ist polyphon.
Viel mehr kann ich über ihn nicht sagen.
Wenn ich, wie jetzt beim Schreiben, zwischendurch versuche den Tinnitus genauer zu lokalisieren, entzieht er sich. Klar in den Ohren zischt es zur Zeit, rechts etwas lauter und höher, links ein etwas tieferer Ton. Aber ist da nicht im linken Hinterkopf ein Chor der einen Ton hält, dann langsam auf- oder abschwingt? Zur Zeit mit wenig Hall. Aber ich weiß, wenn ich später wieder versuchen sollte, ihn zu beschreiben, wird es anders sein. Der Tinnitus läßt sich nicht feststellen.
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Die 90ger Jahre waren für mich auch eine Abfolge von Gebrechen deren Zusammenhang sehr diffus war. 1992 zog ich von New York nach Köln um ein Jahr später in die Nähe von Koblenz an die Mosel zu ziehen. Ich folgte einem neuen Job.
Beschwerden wie Gicht, hohes Cholesterin, wechselten sich ab mit Bewegungsproblemen wie umgeknickte Füsse mit monatelangem Humpeln, Entzündungen in den Knien, wiederholte Entzündungen der Sehnerven mit bleibenden Schäden. Es legte sich mir dieser breite Gürtel in Höhe unterer Brustkorb um, virtuell, aber sehr drückend, an dessen Diagnose sich Ärzte verschiedener Fachrichtungen probierten.
Mitte der 90ger Jahre hatte ich eine Hodentorsion mit Notoperation. Zwischen Diagnose, Fahrt ins Krankenhaus und Operation blieb noch Zeit zur Patientenaufklärung und meiner Unterschrift, dass ich im Fall der Fälle Silikonhoden wünschte. Der Operation schlossen sich Jahre von Nebenhoden/Prostata-Entzündungen an, teils liessen sie sich als bakteriell nachweisen, teils erschienen sie psychosomatisch nachgebaut. Beides sehr, sehr schmerzhaft. Mit Erfahrung glaubte ich sie im Schmerz unterscheiden zu können: in der einen Variante mündete der nachlassende Schmerz in Lustschmerz, die andere Variante bot aus dem Schmerz heraus keinen Trost an.
Dann pfiff das Pfeifen im Ohr das erste Mal. Unregelmäßig, immer wieder mal. Anfangs ließ es sich mit einem Glas Scotch besänftigen. Oder ich versprach mir dringend selbst: „Du gehst jetzt in Bett und morgen früh ist das Pfeifen weg“. Das klappte für eine Weile. Das Pfeifen beunruhigte mich, aber ich empfand es nicht als bedrohend.
Beiläufig erzählte ich dem Urologen davon. Mit den Entzündungen müsse es jetzt mal aufhören, mir pfiffe es wegen des Stresses schon gelegentlich im Ohr. Er erzählte mir von einer Tinnitusspontanheilung bei seiner Frau, aber ich solle das auf jeden Fall mit den richtigen Ärzten extra abklären. Es folgte das Abklären. Hausärztin, der erste HNO-Arzt riet zum schnellen Gewöhnen, es werde nichts helfen, er selbst habe das schon fast 40 Jahre; ein zweiter HNO-Arzt, Medikamente, von denen eines eine Viagra-ähnliche Wirkung hatte (Viagra gab es damals noch nicht), Infusionen an mehreren Tagen hintereinander. Es half nichts, das Pfeifen verstetigte sich.
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Mir wurde schnell klar, dass ich gleich auf der ersten HNO-Arzt hätte hören sollen. Die Therapiesuche würde nichts bringen, außer der Beruhigung die in der Beschäftigung damit liegt. Info-Broschüren verstärkten die Aussage des ersten HNO-Arztes von der höchstwahrscheinlichen Vergeblichkeit weiterer Anstrengungen (Das war nicht die Aussage der Broschüren, lediglich meine Folgerung.). Außerdem: die Beschwerden, die später unter „MS“ und „chronischem Nierenversagen“ zusammengefasst wurden, führten zu einer jahrelangen Reise durch die Praxen von Ärzten aller möglichen Fachrichtungen. Mir war nicht nach weiteren HNO-Arztbesuchen und Wartezimmern auf der Jagd nach einer Therapie, die es höchstwahrscheinlich nicht gab.
Tinnitus gilt als „Volkskrankheit“. Es gibt eine große Auswahl an Therapieversuchen und -versprechen. Manche auf der Schiene der Medizin, auch experimentell, manche zur psychologischen Bewältigung, manche mit der Überzeugungskraft einer SMS, die verkündet, man wäre der Gewinner von 100.000 Euro und sollte am besten gleich die 250 Euro Gebühren überweisen.
Es gibt keine auf Dauer wirksame Therapie. Je nach den Umständen lindert ein Hörgerät oder hilft Maskieren, vielleicht gibt es ein kurzzeitiges ruhiger Stellen, doch außer Spontanheilungen in akuten Fällen gibt es nichts was Abhilfe schafft. Gäbe es eine wirksame Therapie, könnte so eine Sache keine Volkskrankheit sein.
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Seit kurzem wieder in Köln. Das Zimmer abgedunkelt, ich liege auf der Couch. Versuche mich zu entspannen. Schweifende Gedanken einfangen, loslassen, konzentrieren oder dösen? Es erfaßt mich die Gewissheit, dieses Pfeifen wird bleiben, es wird keine Stille mehr geben. Nie mehr. Eine aufflackernde Erkenntnis, die gleichzeitig in den ganzen Körper einsinkt. Von hier ab ein Leben ohne Stille. Ein niederdrückendes Gefühl. Ein Verlust, der sich nicht beschreiben und messen läßt. Eine Traurigkeit, die sich nicht wie eine herbstliche Melancholie in süßlichen Weltschmerz verwandeln läßt. Kann man so leben? Kann ich so leben? Ich weiß um meinen zu früh abbauenden Körper, auch ohne umfassende Diagnose. Ich fühle, dass die Kaskade von gesundheitlichen Schwierigkeiten sich nicht auflösen wird. Kann und will ich obendrein dieses Pfeifen ertragen oder ist dieses Pfeifen da nicht eigentlich nebensächlich? Kann ich es verdrängen oder ignorieren?
Ich werde mich ganz in mein Tun versenken müssen. Bücher lesen, in die ich mich verlieren kann; Filme sehen, die mich fesseln; lebhafte Gespräche; Arbeit die mich interessiert und fordert. Konzentration oder das Gegenteil, die völlige Zerstreuung, mich dösend unterhalten lassen. Berieseln lassen, weiter zappen, treiben lassen. Allzeit Musik im Hintergrund. Nur nicht an das Pfeifen denken! Natürlich, es gibt auch Rausch und Ekstase. Doch zum Rausch fehlt mir inzwischen die Kondition, die Tage danach sind einfach zu lang und die Ekstase ist zu kurzlebig, zu schnell meldet sich der beschädigte Körper zurück. Ausserdem bin ich nicht der Typ für den Kontrollverlust, ich lebe gern mit der Illusion der Kontrolle.
Niemand lebt nur in den Zuständen von entweder völlig gebündelter Aufmerksamkeit oder euphorischem Aussersichsein oder träumerischer Gedankenlosigkeit. Wir bewegen uns dazwischen, daran ändern Vorsätze aus abgedunkelten Zimmern und kontemplativen Versuchen nichts. Das Pfeifen drängt immer wieder akut in die Aufmerksamkeit, schafft Momente des Verzweifelns, der Ratlosigkeit und des hektischen Ausweichens. Er bleibt eine zermürbende Plage.
Spazierengehen, in Bewegung bleiben. Jetzt nicht Schlafen gehen. Lange Spaziergänge, auch nachts. Für eine zeitlang wird ein Jazzclub meine Stammkneipe. Sehr spät, nach dem Abendfilm, losgehen. 30 Minuten hin, ein oder zwei Bier, 30 Minuten zurück. Möglichst erschöpft schnell einschlafen.
Ich fange das Joggen an. Joggen gegen die Beschwerden und gegen das Pfeifen. Nach viel Übung schaffe ich größere Strecken. Dann laufe ich sehr lange und oft. In der Fitness liegt eine große Erleichterung und Freude. Es ist schön, sich in dem Alter in einer Bewegung noch steigern zu können. Nach nur ein, zwei Tagen ohne Laufen wird es zu einem dringenden Bedürfnis die Laufschuhe anzuziehen und rauszugehen. Ich laufe Stunden am Stück, wenn auch sehr langsam.
- Die beiden Frauen in Winterstiefeln schieben Kinderwagen und unterhalten sich dabei. Sie scheinen es nicht mal eilig zu haben. Ich bemühe mich zügig zu laufen. Wie ewig sich das Überholen hinzieht. Na ja, ich strebe keine Wettläufe an. -
Mit dem Laufen war es nach wenigen Jahren vorbei. Ich bekam die Füße nicht mehr hoch. Aus dem Pfeifen war ein Krawall geworden.
„The most beautiful sound next to silence” war der Slogan des ECM-Musiklabels. Aber stimmt das, ist die Stille wirklich so schön, dass nur Musik ihrer Schönheit nahe kommt? „In Sounds of Silence“ von Paul Simon (Simon und Garfunkel) wird die Stille zum Sound der Düsternis und Bedrohung.
Wenn Gefangenen Sinnesreizungen entzogen werden, sie in völliger Stille keine Geräusche mehr hören, wird das zur Folter mit gravierenden körperlichen Folgen.
Geräusche gehören zum Menschen von Anfang an dazu. Das Milieu des Erwachens als Fötus liegt im Bauch über dem Beckenraum der Mutter. Ihre Körpergeräusche, eingefangen und verstärkt vom Hallraum des Beckens, da kann ein Furz zu Getöse werden, gehören zu den ersten Sinneseindrücken des Fötus. Dann lernen Föten von außerhalb der Mutter kommende Geräusche kennen und unterscheiden. Sie wissen welches die Stimme der Mutter ist, kennen ihre Klangfarbe und Sprechrhythmus. Nach Verlassen des wohligen Milieus von Plazenta und Mutter quittieren Neugeborene die Ankunft in der Kälte mit dem, dem Hören quasi reziproken Organ. Ein Schrei oder Seufzer wird erwartet. Kinder wachsen in eine mit Sprache gebaute Welt. Und immer, auch als erwachsene Menschen, wird die Sprache den Horizont ihrer Erfahrungen abzirkeln. Das Geräusch färbt die Zeit, wie die Farbe den Raum tönt.
Wir freuen uns Stimmen wieder zu hören, die wir lange nicht gehört haben. Wir unterhalten uns, auch wenn wir nichts zu sagen haben. Im Sprechen produzieren wir Klangwellen die zur Wohlfühl-Atmosphäre der Gruppe beitragen, die sogar eine Gruppe bilden können. Geplänkel, Klatsch und Tratsch, Smalltalk, oft, wenn nicht sogar meistens, geht es darum. Doch selbst im ernsthaftem, freundschaftlichem Gespräch wiederholen wir uns, um uns mit einem Sprechen zu verbinden, in dem die Wiederholung nicht vielmehr ist, als ein Klingen auf der Suche nach Resonanz. Wir genießen auf einer Wellenlänge zu sein. Im Sprechen teilen wir uns mehr mit, als das, was wir direkt sagen. Im oben angesprochen Lied „Sound of Silence“ produziert das Schweigen den Horror.
Wir sind eingebettet in Geräusche und sie gehen in unsere Orientierung ein. Wir nehmen sie auf ohne es zu bemerken. Der Sand unter den Schuhen knirscht, Laub raschelt, die Straße klingt nass, hinter uns einzelne Schritte. In den Vordergrund unseres Denkens rückt das, wenn es ungewöhnlich, unerwartet ist oder wir es als Bedrohung empfinden. Und es ist ungewöhnlich, ja sensationell, wenn es plötzlich wieder kommt, nach dem es schleichend langsam entglitten war: Dreimal, jeweils nach dem Anpassen neuer Hörgeräte, ist mir deutlich wie neu zu Bewusstsein gekommen, welche Geräusche das einfache Gehen macht und dass jede Umgebung klingt.
Die Klangqualität der Räume, die wir schaffen und bewohnen, ist uns wichtig. Zum Einwohnen des Raumes gehört sein Geräuschprofil. Wir möchten keinen Hall in der Küche, einen klaren Ton vorm Fernseher und möglichst wenig von den Nachbarn hören.
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Es gibt eine Sehnsucht nach Stille. Nicht nur der oben zitierte Slogan „The most beautiful sound next to silence” spielt darauf an. Zu allen Zeiten und an vielen Orten haben Dichter die Stille beschworen und besungen. Da ging es nicht um Motorenlärm, quietschende Straßenbahnen, dröhnende Flugzeuge oder kreischende Menschenmengen. Auch Presslufthämmer und Laubbläser sind neuere Errungenschaften.
Beklagt wurde der Lärm des Marktes, die Geschäftigkeit und Betriebsamkeit der Menschen, Streit und Feilscherei, Wollust und Sünde.
Die Ruhe zur Besinnung und Überlegung drohte im Alltag der Menschen schon immer verloren zu gehen. Gegen diesen Verlust ist der Ruf nach Stille ein Ruf zur Einkehr, Meditation und Gebet.
Ruhe und Erholung, Rückzug und Stille stehen gegen das, was uns täglich umtreibt. Dabei ist mit Stille selten das Abschirmen von jedem Hör-Reiz gemeint und Erholung heißt manchmal Eckkneipe oder Club.
Eine zeitlang probierte ich die meditative Ruhe. Ich begann während meiner Dialyse-Jahre mit Qigong. Eine kurze Zeit nahm ich auch an Ruheübungen teil, die sich der Stunde anschlossen. Von den Füßen aufwärts versuchten wir den Körper aus unserem Fühlen zu entlassen, nichts mehr durch unsere Sinnesorgane aufzunehmen (hier also tatsächlich Entzug aller Reize zur Stille) und uns völlig zu lösen. Mein angestrengtes Lauschen, um den ruhigen Anweisungen folgen zu können, ließ meinen Tinnitus aufblühen. Glücklicherweise schlief ich dann meistens ein.
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Lärm belästigt. Zuviel Lärm beschädigt. Manche Disobesucher kennen den gelegentlichen Tinnitus am Tag danach. Ein zu hoher Lärmpegel dauerhaft oder ein zu lauter Knall zu nah am Ort kann zu einer dauerhaften Hörschädigung führen, einmal abgesehen von andern möglichen Krankheitsfolgen. Ich bin vermutlich kein Lärmgeschädigter. Als eins von fünf Kindern in sehr beengten Verhältnissen aufgewachsen, war ich zwar immer von Geräuschen umgeben, aber wir waren keine besonders laute Familie. Es gab den Trubel der vielen Kinder aus den Häuserblöcken, aber keinen Straßenlärm.
Auch beruflich war ich keiner großen Lautstärke ausgesetzt. Winkelhaken, Ahle und Pinzette waren das Werkzeug des Schriftsetzers, Witzchen und Klatsch die Geräuschkulisse. Dann Satzcomputer, Lineal und Skalpell. Später PC, Fax und Telefon, aber nie in Großraumbüros. Ich bin jahrelang in keinem Drucksaal oder an krachmachenden Falzmaschinen gewesen. Sofern ich später dort zu tun hatte, war es gelegentlich einer kurzen Druckabstimmung oder Qualitätskontrolle. Andererseits war ich immer von Geräuschen umgeben: von Familie zu wechselnden Wohngemeinschaften; in Afrika war wirklich nichts leise und den ästhetischen Genuss des Flaneurs in New York gibt es nicht ohne Straßenlärm.
Es spricht einiges dafür, das der Tinnitus auch eine Reaktion auf den Entzug von Geräuschen ist. Fast die Hälfte aller Schwerhörigen leidet unter Tinnitus. Es scheint, wir Schwerhörigen beantworten den Verlust von Aussengeräuschen mit dem Erzeugen unserer eigenen. Zur Zeit meines ersten Pfeifens lebte ich allein ich an der Mosel. Das war zwar zehn Jahre vor meinem ersten Hörgerät, aber doch die Zeit in der es quälend wurde, wenn der Fernseher aus irgendeinem Grund nicht lauter gestellt werden konnte. Es wurde anstrengender Gesprächen zu folgen und das Zuhören in manchen Kinofilmen war eine Last.
Heute denke ich, dass die Serie von körperlichen Beschwerden in den 90er Jahren und die beginnende Schwerhörigkeit im Tinnitus zusammenwirkten. Ich glaube, dass mein Tinnitus aufgefächert ist, sich aus verschiedenen Quellen speist. Ich sehe einen Teil der Schädigung analog zum Sehnerv. Dieser bleibt von den Entzündungen (im Rahmen von MS-Schüben) irreparabel beschädigt. Ein ähnliches Geschehen vermute ich als Ursprung der von hinten im Kopf kommenden Polyphonie; das Rauschen im Ohr gestehe ich der Schwerhörigkeit zu. Es gibt dafür keine ärztliche Bestätigung und es läßt sich nicht beweisen. Ein Zusammenhang zwischen MS und Tinnitus ist nicht belegt. Auch meine regelmäßigen MRTs sagen dazu nichts. Allerdings erscheint nicht alles im Bild. Die übliche MRT-Auflösung ist so gering, dass nicht mal eine akute Sehnerv-Entzündung erschiene (in meinem heftigsten Fall: kurzzeitige Erblindung).
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Früher bin ich zum Spazierengehen und Joggen oft in den Grüngürtel gefahren. Bäume säumen den Parkplatz, Grün dringt in das Kopfsteinpflaster. Nur um zwei Kurven gefahren und man hatte den Eindruck inmitten von Natur und Wald zu sein.
Gleichgültig wie viele Autos dort parkten, in der Landschaft verloren sich die Menschen. Damals gehörten zu dieser Idylle auf dem Parkplatz immer zwei, drei oder vier Wohnwagen, geschmückt mit kleinen rote Neonherzen in den Fenstern, auf den manchmal einladend geöffneten Türen Aufkleber mit Namen wie Nicole, Chantal oder Britney Hot.
Vom Parkplatz aus geht es über eine kleine, von Bäumen dicht beschattete Straße, auf einen Schotterweg. Rechts ein Weiher mit einer kleinen Insel in der Mitte, dahinter ein Hügel mit Bäumen. Heutzutage mit Bootsverleih und Biergarten am Weiher. Eingangs steigt auch links vom Weg eine Wiese auf. Geradeaus hinter dem Weiher breitet sich eine Graslandschaft aus. Flankiert von Wald rechts und links, erstreckt sie sich über 500 Meter Breite und 1500 Länge. Sanftes Auf und Ab. Dann steigt die Wiese leicht an. Dort wird die Idylle von eine Hauptstraße durchschnitten, um sich dahinter in gleicher Größe Wieder auszudehnen.
Eine kleine Gruppe von Birken flimmert in der Sonne. Schotterwege umrahmen und durchkreuzen die Wiese, schneiden in die Wäldchen und laufen in diesen parallel zur Wiese.
Kölner Pastorale, manchmal sogar mit Schafen im hohen Gras.
Einmal bin ich mit einem befreundeten Paar in diese Landschaft spaziert. Wir hatten schon einige Kilometer in den Beinen, hatten über die Fußgängerbrücke die äußere Ringstraße gequert und fanden uns inmitten dieser Landschaft wieder.
-Oh, wie schön, staunte mein Freund, kaum zu glauben, so eine schöne Landschaft so nah an der Stadt. Perfekt, wenn das Rauschen der Autobahn nicht störte…
-Welches Rauschen der Autobahn? Es gibt nichts was meinen Tinnitus friedlicher stimmt als dieses Rauschen.
Der Wald rechts und links ist nur jeweils ein schmaler Streifen. Auf der einen Seite verdeckt er die Ringstraße, auf der anderen die Autobahn.
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Der Tinnitus ist absurd! Er warnt nicht: „Iss weniger Zucker!“ oder: „Die solltest weniger rauchen!“; er mahnt nicht: „Trink mehr Wasser!“ oder: „Meide den Feierabendverkehr!“. Er gibt keinen Ratschlag und spricht keine Verbote aus.
Er kommt unangekündigt und sagt: „Ich bin da und bleibe bis du im Ziel bist!“
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