Sa., 19 März 2022

Marx, Marxismus, Russland

Das Ende der Sowjetunion und des Ostblocks wirkt wie eine Illustration der Marx’schen Theorie, wann und warum es zu revolutionären Umbrüchen kommt: nämlich wenn die Produktionsverhältnisse die Entwicklung der Produktivkräfte hemmen. Das heißt, die Verhältnisse in denen produziert wird, lassen eine weitere Entwicklung von Wissenschaft und Technik nicht zu; sie engen die Menschen ein, lassen ihrem Einfallsreichtum und ihrer schöpferischen Kraft keinen Raum. In den eng gezogenen Grenzen des „realen Sozialismus“ gab es beispielsweise keine Möglichkeiten für einen Steve Jobs, Bill Gates oder ähnliche Gestalten. Allein die Telekommunikation- und IT-Entwicklung ist ein derartiger Slalomlauf von „Trial and Error“, Aufstieg und Niedergang von Prozessen, Organisationen und Firmen, dass sich ein Komitee, das diese Entwicklung  allumfassend bruchfrei steuert, gar nicht denken läßt. Die Telekommunikation- und IT-Entwicklung  wiederum griff in eklatanter Weise in alle Gewerbe, Industriezweige, Unterhaltungs- und Freizeitweisen ein. Dies war nach Marx eine Situation, in der es zu einer Revolution kommen musste.

Nur hatte Karl Marx es natürlich anders herum gedacht: Der Kapitalismus hätte, obwohl zu laufenden Umwälzungen getrieben, letztlich der Kreativität die Grenzen setzen, der Sozialismus den Weg ins Offene weisen sollen.

Die ist nicht die einzige Paradoxie im Dreieck Marx, Marxismus und Russland.

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“. Diese Einleitung des 1. Kapitels des „Manifest der Kommunistischen Partei“ wurde schon zu Marxens Lebzeiten zu einem unverrückbaren Glaubenssatz, zu einem Stück „Marxismus“. Im Kanon gehört dazu eine zwangsläufige Folge von gesellschaftlichen Formationen: Feudalismus - Kapitalismus - Sozialismus.

Für Marx selbst war die Sache später nicht mehr so klar. In Aufsätzen, Zeitungsartikeln und Briefen äußerte er sich zu einer „asiatischen Produktionsweise“ und „Orientalischer Despotie“, Gesellschaften in den es Bewegungen nur an der Oberfläche (=Machtkämpfe innerhalb der Eliten oder Austausch der Eliten) und keine Klassenkämpfe gäbe.

Ich versuche hier kurz (und grob) darzustellen, was mit diesen Begriffen gemeint ist. Ich weiß nicht, wie das heute in den Geschichtswissenschaften, in Ethnologie oder Sinologie gesehen wird, oder ob das überhaupt noch eine Rolle spielt.

In der „Klassenkampf-Geschichte“ entsteht der Staat als Instrument der herrschenden Klasse, um mit seiner Bürokratie, mit Polizei und Armee die Klassengegensätze und die widersprüchlichen Interessen innerhalb der herrschenden Klasse zu regulieren, beruhigen und unterdrücken. Im Gegensatz dazu entwickelt sich der Staat in der „asiatischen Produktionsweise“ aus einer funktionellen Bürokratie. Diese Bürokratie ist eine Wissensherrschaft. Sie wird zum Beispiel benötigt um große Wasserbauprojetkte zu organisieren, um Überschwemmungen einzudämmen oder Flächen  in der richtigen Jahreszeit zu bewässern etc. (Karl A. Wittfogel hat aus den Marxschen Texten und eigenen Forschungen  eine umfassende Theorie der „hydraulischen Gesellschaft“ ausgearbeitet).

Die Konkurrenz, das allgemeine Wettrennen führt zu einer rasanten Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Immer neue Erfindungen, neue Organisationen und Techniken. Eine Firma die nicht Schritt hält, verschwindet letztendlich vom Markt.  In der „asiatischen Produktionsweise“ erzeugen lokale Warenproduktion und -austausch kein Kapital und Bürgertum, dass es jemals mit der herrschenden zentralen Bürokratie aufnehmen könnte. Die Bürokratie zieht Steuern ein und häuft einen riesigen Reichtum an. Ihre Spitze herrscht despotisch, das heißt schrankenlos. Diese herrschende Bürokratie war zu großen Ingenieur- und Bauleistungen, zu komplexer Planung und Koordination fähig: die fast 900 Paläste der Verbotenen Stadt in Beijing, China wurden in nur 14 Jahren gebaut (1406-1420). 100.000 Kunsthandwerker und 1.000.000 Sklaven sollen dabei zum Einsatz gekommen sein. Zum Vergleich: der Kölner Dom hat 630 Jahre zur Fertigstellung und die Hilfe der Preußen benötigt. Die Preußen sahen ihn als nationales Symbol deutscher Kultur, während sie gleichzeitig im „Kulturkampf“ die katholische Kirche in die Schranken wiesen.

Aber vor dem Dom wurde der Kölner Bahnhof fertig, eine Revolution der Infrastruktur, die von der Welt der ersten Dom-Baumeister unvorstellbar weit entfernt war, während in China die Gesellschaft unterhalb der Prachtentfaltung der Kaiser-Bürokratie weitgehend stationär geblieben war.

Marx sah Russland in einer Despotie gefangen, die ihren orientalischen Ursprung nicht verleugnen konnte. Der russische Zar hatte sich die Macht von den mongolischen Herrschern „erschlichen“, welche wiederum die in der riesigen Fläche jeweils isolierten Fürstentümer unter ihre zentrale Gewalt gezwungen hatten und besteuerten. In den lokalen Fürstentümern lebten die Fürsten von ihren leibeigenen Bauern, eine bürgerliche, politische Öffentlichkeit gab es nicht. Der Zar war eine „Selbstherrscher“, seinen Subjekten nicht verpflichtet und niemandem Rechenschaft schuldig. Von der früheren mongolischen Herrschern hatten die Zaren den aggressiven Expansionsdrang übernommen.

In den letzten 150 Jahren, so notierte Marx, „ (sind) die russischen Grenzen … vorgerückt: in Richtung auf Berlin, Dresden und Wien um etwa 700 Meilen, in Richtung auf Konstantinopel 500, in Richtung auf Stockholm 630, in Richtung auf Teheran 1000.“

Friedrich Engels: „Um im Innern absolut herrschen zu können, mußte das Zarentum nach außen mehr als unbesiegbar, es mußte ununterbrochen siegreich, mußte imstande sein, den unbedingten Gehorsam zu belohnen durch chauvinistischen Siegesrausch, durch immer neue Eroberungen:“

Nach den niedergeschlagenen demokratischen Revolutionen 1848/49, der direkten russischen Intervention gegen die ungarische Revolution, den diplomatischen, geheimdienstlichen und korrumpierenden Machenschaften des Zarentums galt Russland für Marxzeitlebens als die gefährlichste Blockade der europäischen Revolution, als Rückgrat der finstersten Reaktion. Das sahen viele Revolutionäre zunächst ebenfalls so, Russland galt als der „Gendarm Europas“, Marx jedoch steigerte sich in eine „Realpolitik“ gegenüber Russland, die bei jeder Wendung  andere demokratische und kommunistische (damals noch nicht sich ausschließende Gegensätze) Gruppen und Personen vor den Kopf stieß. Im Krimkrieg unterstützte er in England die „Whigs“, die Partei der Grundbesitzer (zu der Ironie, die darin liegt, später), gegen die „friedenshetzende“ bourgeoise Opposition; als er die Kriegsführung des Whig-Premierministers als nicht energisch genug empfand, bezichtigte er ihn, ein zaristischer Agent zu sein; eine Beschuldigung die er obsessiv ausbaute und die ihn an die Seite eines obskuren Publizisten trieb, aber nahezu gegen alle seine Genossen; er war gegen die griechischen Revolutionäre, die für ihre Befreiung aus dem osmanischen Reich kämpften, weil er eine Schwächung der Osmanen befürchtete, was wiederum dem Zarenreich hätte nützen können.

In Russland hatten Volkstümler die russische Dorfgemeinde, in der die Bauern auch nach Ende der Leibeigenschaft 1861 kein Eigentum besassen – das Land war Gemeineigentum –als Ausgangspunkt eines ländlichen Sozialismus ausgemacht. Karl Marx hatte sich durch seine Untersuchungen „davon überzeugt, daß diese Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands ist; damit sie aber in diesem Sinne wirken kann, müßte man zuerst die zerstörenden Einflüsse, die von allen Seiten auf sie einstürmen, beseitigen …“ und festgestellt, das seine Untersuchungen zur Entstehung des Kapitalismus  und „die ‚historische Unvermeidlichkeit‘ dieser Bewegung … ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt (ist).“

Karl Marx starb 1883. Im ihn folgenden „Marxismus“ spielten seine Aussagen zu „Orientalischer Despotie“, „Asiatischer Produktionsweise“ und „russischer Bauernkommune“ keine Rolle, weder im Westen noch im Osten.

Die russischen Marxisten theoretisierten und untersuchten nicht in dieser Richtung. Landlose Bauern werden zum Proletariat, das Proletariat stürzt den Kapitalismus und errichtet den Sozialismus  – dies war für sie der universale Lauf der Geschichte. Die Begriffe des Marxismus reichten nie zur Beschreibung der Wirklichkeit, erst Recht nicht in Russland, wo seine dortigen Apologeten Marx’ Hinweise zu russischen Besonderheiten erst ignorierten und später in der UdSSR Ausführungen zu „Orientalischer Despotie“ und „asiatischer Produktionsweise“ schlicht verboten. Das wurde sprachtechnisch geregelt: künftig war nur noch von Feudalismus die Rede. In ihrer Theorie war es nie weit zu Stalin, der schließlich 1938 in „Über dialektischen und historischen Materialismus“ alle Fragen der Geschichte und Philosophie zusammenfassend und sehr verbindlich klärte.

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Seinem Buch zu der Frage „Was war der Kommunismus“ hat Gerd Koenen den Titel die „Utopie der Säuberung“ gegeben. Ich halte dies für die treffendste Beschreibung des russischen Kommunismus.

Die Meinungsverschiedenheiten, Streits und Spaltungen wie sie in allen politischen Gruppen üblich sind, bekamen in der russischen Sozialdemokratie mit der Gründung der Bolschewiki eine neue Qualität: die Säuberung, die Reinheit der Linie, was immer sie gerade war, wurde das Fixum des politischen Geschehens. Lenin hatte im Jahr 1902 in seiner Schrift „Was tun?“ den Bauplan einer streng hierarchischen Organisation entworfen, die nach einem, aus dem militärischem entlehnten Begriff, als „Avantgarde“ funktionieren sollte. Marx und Bakunin hatten sich über des letzteren Hang zur Geheimbündelei entzweit. (Anfangs freundschaftlich verbunden, verdächtigte schließlich der eine den anderen als „Panslawisten“ und Agenten des Zaren, beziehungsweise andersrum als autoritären Kopf einer jüdischen Clique, die die Arbeiterbewegung dominieren will.) Die Bolschewiki schließlich schufen den Geheimbund, den Marx abgelehnt hatte, als Spiegelbild der zaristischen Gesellschaft. Strikt von oben nach unten, mit Befehl und Gehorsam organisiert, konnten sie die revolutionären Unruhen im vom Krieg erschütterten russischen Reich nutzen und sich an die Macht putschen. Nur sie konnten mit ihrer straffen Organisation weitgehend koordiniert handeln, hatten die nötige Skrupellosigkeit die Macht um jeden Preis zu ergreifen und  dazu die nicht unbedeutende Unterstützung des deutschen Kaiserreiches.

Der Machtergreifung folgten Jahre des Hungers, der Gewalt und der Bürgerkriege gegen ausländische Interventionen, gegen russische Armeen, gegen verschiede Gruppen und Völkerschaften in dem Riesenreich. Von Anfang an war die Macht von Feinden umzingelt, von aussen wie im eigenen Land, es musste in einem fort gesäubert werden. Feinde, Abweichler, Verräter, es galt unablässig, so Lenin, die „Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer, von den Flöhen, den Gaunern, von den Wanzen.“

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Marx sah sich in der Tradition der Aufklärung und des deutschen Idealismus. Den  Idealismus hatte er mit einer Idee der Materie, dem „Materialismus“, scheinbar ins Purzeln gebracht.

War Hegel begeistert davon gewesen, in Napoleon die „Weltseele zu Pferde“ gesehen zu haben, wendete Marx die Weltseele „materialistisch“ und sah sie eher im Weltmarkt. Die Marx folgenden Marxisten entdeckten in der Geschichte eine neuen Dreh, eine erstaunliche Kaskade von Verkörperungen. Der Marxismus war der Gipfel der Aufklärung. Das Proletariat verkörperte die Mission die Menschheit zu befreien, die kommunistische Partei verkörperte die Aspirationen des Proletariats, das Zentralkomitee und so weiter bis es schließlich zur Verkörperung aller Verkörperungen kam: der Generalsekretär (oder Vorsitzende). Der Generalsekretär verkörperte Partei, Arbeiterklasse, Volk. Er sass auf dem Gipfel, er hatte die größte Weitsicht. Von hier oben war die Sicht klar, nichts trübte sein Urteil, alles war geklärt. Auf Englisch heißt Aufklärung „Enlightenment“. Sieht man den Generalsekretär so als „Erleuchteten“, bekommt die Sache zu aller „materialistischen“ Verkörperung-Mystik auch noch was östliches.

Diese Verkörperungen hatten wenig mit wirklichen Menschen und ihren Körpern zu tun. Im raschen Durchlauf  verwandelten sich die, in die Städte strömenden Bauern zu Arbeitern, dann, nach kurzer Zeit, in die Armee für den Bürgerkrieg eingezogen, zu Soldaten. Die Partei bestimmte jahrelang direkt, wer körperlich die Arbeiterklasse ist. Später mit Zuzugsregeln und Passgesetzen, die die Passträger an die Orte der Registrierung banden, zumindest indirekt.

Die Säuberungen der Partei ersetzten ebenfalls die ihr zugehörigen wirklichen Körper nahezu komplett durch neue Körper. Hierbei kam es zu den denkwürdigen Verquickungen von Verkörperung und Aufklärung, bei denen Kommunisten sich selbst der ihnen vorgeworfenen Verbrechen beschuldigten. Das Motto legte freilich der Folterer nahe: „Genosse, die Partei weiss was sie macht und sollte sie in deinem Fall wirklich einen Fehler begehen, so kann es in der gegenwärtigen Situation nicht richtig sein, die Partei blosszustellen. Du kennst die Lage, es gibt die Verschwörung, es gibt die Gefahr und es muss das Urteil geben. Du hast die Partei immer geliebt. Der größte Dienst, den du ihr jetzt noch leisten kannst, ist ein Geständnis.“

Gegen den Ernst des Terrors mutet es fast als Satire an, das der tschechische Kommunist Fürnberg, tief enttäuscht nicht zu einem Parteikongress geladen worden zu sein, den Hit dichtete: “Die Partei, die Partei hat immer Recht, – Genossen es bleibt dabei, – die Partei hat immer Recht.“

Im Generalsekretär besass also ein wirklicher Körper, mittels Verkörperung, die Macht, die wirklichen Menschen in realen Körpern, die, zusammgengefasst in einer ideellen Kategorie wie Arbeiterklasse, er ja ideell verkörperte, extrem willkürlich zu behandeln.

Stalin hatte mit seiner Schrift „Marxismus und nationale Frage“ den Bolschewismus um die nationale Identitätspolitik bereichert und neue Propagandafelder geöffnet. Er war nach Lenin der wichtigste Parteiführer (auch weil er als Bankräuber, Pirat, mit Erpressung der Ömagnaten in Baku etc. ein wichtiger Financier war). In der praktischen Politik spielte sein Sinn für die „nationale Frage“  schon nach wenigen Jahren vor allem negativ eine Rolle. Seine ethnischen Säuberungen vor und nach dem zweiten Weltkrieg, die Umsiedlungen, Vertreibungen und Verschleppungen von Minderheiten und ganzen Volksgruppen stellen alle anderen derartigen europäischen Unternehmungen in den Schatten. (Natürlich ist hier die rassistische Ausrottungspolitik der Nazis gegenüber den Juden nicht als ethnische Säuberung gefasst. Der Holocaust ist eine andere Kategorie.)

Putin hat mit Lenin nichts mehr am Hut, aber das Motiv der Säuberung blieb ein zentrales Anliegen der Staatsmacht. Vor wenigen Tagen erst sprach er von einer nötigen Säuberung von Verrätern. «Das russische Volk wird immer in der Lage sein, wahre Patrioten von Abschaum und Verrätern zu unterscheiden und sie einfach auszuspucken wie eine Mücke, die ihm versehentlich in den Mund geflogen ist.»

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Ich möchte kurz auf die Ironie zurückkommen, die darin liegt, dass Marx die Partei der englischen Großgrundbesitzer unterstütze, weil sie bereit für den Krieg gegen Russland waren. Die Ironie liegt darin, dass in seiner Theorie die Grundbesitzer alle anderen ausbeuten, ohne irgendetwas produktives beizutragen. Für den Krieg gegen Russland war er also bereit sich mit der Partei einer parasitären Klasse zu verbünden.

„Das Grundeigentum setzt das Monopol gewisser Personen voraus, über bestimmte Portionen des Erdkörpers mit Ausschluss aller anderen zu verfügen.“  So weit so klar. Marx hat nun Seiten um Seiten über Grundbesitz geschrieben, um die Grundrente von allen anderen Arten des Einkommens zu unterscheiden. Einkommen aus der Bearbeitung des Bodens, der Bodenverbesserung, dem Hausbau mit Vermietung usw., alles, was irgendwie aus menschlicher Arbeit und dem Einsatz von Kapital (toter menschlicher Arbeit) herkommt, sollte peinlichst genau von der Grundrente unterschieden werden, die nur dem Grundbesitz zu verdanken ist.

Das Verfügen über Erdöl, Gas, Mineralien sind Funktionen des Grundbesitzes. Ich weiß nicht, ob es volkswirtschaftlich sinnvoll ist, das Einkommen aus Förderung und Verkauf von Rohstoffen in Marx’scher Manier zu sezieren, allerdings beeinflussen  Bodenschätze Volkswirtschaften in bestimmter, prägnanter Weise. Je mehr Bodenschätze, je größer das Einkommen aus der Förderung und je geringer entwickelt die übrige Volkswirtschaft ist, umso mehr drücken sie dem wirtschaftlichen Geschehen ihren Stempel auf. Die Währung steigt, Einfuhren werden billiger, die eigene Industrie wird unter Druck gesetzt, Ausfuhren teurer, die eigene Industrie verliert an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, die Förderindustrie und das drumherum ziehen sehr viele der fähigsten Talente aus allen Branchen an, lukrative Posten sind zu vergeben, der große Reichtum kauft leicht Einfluß, etc. In einer entwickelten Ökonomie geht der aus dem Boden sprudelnde Reichtum in die Wirtschaft, sei es noch so korrupt, nur über Luxusproduktion oder wie auch immer, der kapitalisierte Reichtum treibt die Wirtschaft an. In einer wenig entwickelten Wirtschaft fliessen die Gewinne ins Ausland, kein Anstoß für die Wirtschaft im Förderland.

Der fossile Energiesektor in Russland macht ca. 20% des BIP, 60% der Exporte und 40% der Steuereinnahmen aus. Das ist für ein entwickeltes Land sehr viel. Und das ist grausame Ironie: die Verhältnisse lassen sich leicht in Analogie zu den verfemten Begriffen „asiatische Produktionsweise“, „orientalische Despotie“ von Marx beschreiben. Die am wenigsten innovative Industrie, der fossile Energiesektor, produziert obszön reiche Oligarchen, die ihren Reichtum zu einem großen Teil ins Ausland schaffen und/oder mit importierten Luxusgütern zur allgemeinen Schau verprassen. Die Oligarchen machten sich den Staat untertan, die allgegenwärtige Korruption machte ihn zur Knetmasse in ihren Händen. Dann emanzipierte sich Putin als ein zu allem bereiter, bekannter Gewalttäter von den Oligarchen. Er sagte ihnen ziemlich direkt und unverblümt: macht euer Ding, aber haltet euch von der Politik fern. Er steckte einen Oligarchen ins Gefängnis, liess einen anderen im Ausland umbringen, dementierte die Verantwortung an Morden an Gegnern im Ausland mit zynischen Kommentaren, die alle verstanden, und schuf so die politische Ruhe, die er sich wünscht. Er wurde zum quasi Autokraten, der sich mit willfährigen Zuflüsteren und -hörern als Beratern umgibt und ansonsten nur noch Bittsteller kennt.

Das Herumrätseln an Putin, ob er noch vernünftig sei und was die Ziele seines Handelns sind, ist da weitgehend müßig.

Was sollte an einer Autokratie vernünftig sein? Wie sollte eine Autokratie in einer Welt unendlicher Zwecke, Ziele und Interessen vernünftig agieren? Wie wäre das Feld der Vernunft für einen 77jährigen Autokraten abgesteckt? Eine vernünftige Autokratie – das ist ein Widerspruch in sich.

In Dostojewskis „Schuld und Sühne“ heißt es, die Vernunft ist die Magd der Leidenschaft. Ein Autokrat kann es sich erlauben, seine Welt ganz nach seinen Leidenschaften zu bauen.  Seine Vernunft legitimiert seine Leidenschaften und sie trifft auf keine anderen, die ein Ausbalancieren forderten. Putins Leidenschaft ist der russische Mythos, all die Beleidigungen und Erniedrigungen, die er im Zerfall der Sowjetunion ertragen musste, wegwischen, die Geschichte korrigieren, Größe und Glanz des Imperiums wieder herstellen.

Nur kurz, zwischendurch, färbte und verdeckte der kommunistische Universalismus was Putin als den glorreichen Kern sieht: die jahrhundertelange Kontinuität des letzten europäischen Kontinentalimperiums.

Die Politik der UdSSR, die Staaten- und erzwungenen Regierungsbildungen des Ostblocks nach 45, die großen ethnischen  Umsiedlungen nach1945, die Einmärsche in Ungarn 1956, Tscheslowakei 1978, Afghanistan 1979 sind dieser Lesart nicht falsch gewesen. Sie waren unter den zeitlichen Bedingungen die Fortsetzung der zaristische Expansionspolitik vergangener Jahrhunderte. Und Putin sichert die Kontinuität der russischen Politik unter den jetzigen Bedingungen: Grozny, Georgien, Krim, Dombas, Aleppo und jetzt die ganze Ukraine. Mit der Ukraine wird nicht Schluss sein. Alles für die Größe Russlands.







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