Die dritte Impfung

Die dritte Impfung und das schöne Leben

Veröffentlicht im November 2021

Diesmal wird es anders sein. Das merkte ich gleich, als die Arzthelferin die Einstichstelle sanft massierend den Impfstoff verteilte.


Die Einladung zur dritten Impfung Anfang Oktober hatte ich erwartet. Im Mai war über amerikanische Untersuchungen berichtet worden, die ergeben hatten, dass Organtransplantierte durch die zweite Impfung nicht sicher geschützt sind. Bei ca. der Hälfte der untersuchten Menschen verhinderte die Medikation, die eine Abstoßung des transplantierten Organs durch das Immunsystem unterdrücken soll, die Bildung von Antikörpern. Eine „Durchbruchinfektion“, also eine Infektion trotz vollständiger Impfung, ist auch unter Transplantierten selten, aber immer noch ca. 80 mal häufiger als unter der Allgemeinbevölkerung; die Todesrate nach solch einer Infektion fast 500 mal häufiger.


Als ich aus der Praxis kam, schien die Sonne. Auf dem Weg zur Bahn fummelte ich mein Telefon aus der Innentasche, schob die Maske runter, öffnete die Hörgeräte-App, wechselte „Sprachklarheit“ auf „Komfort“, regelte die Lautstärke runter und kaufte mein Bahnticket. Dann öffnete ich die e-book-App. Zur Dialysezeit hatte ich mir einen Kindle gekauft, der einhändiges Hantieren selbst dickster Bücher erlaubte. Seitdem gibt es für mich keine Wartezeiten mehr, nur Lesen in unterschiedlichen Räumen und Umständen. Den Kindle hatte ich vergessen mitzunehmen, deshalb musste das Telefon reichen. Ich öffnete die App, vergewisserte mich, dass Buch an der richtigen Stelle geöffnet war, klickte den Bildschirm weg und wie ich an der Haltestelle ankommend aufblickte, fuhr die Bahn ein. Es passte einfach alles.


Ich spürte die Blicke im Nacken. Zwischen Haaren und T-Shirt, zwei warme Flecken, rechts und links. Hinter mir ein Getuschel und Gemurmel. Ich kann sowas nicht klar hören, geschweige denn verstehen. Reden da wirklich Leute oder hatte der Tinnitus, nachdem ich mich hingesetzt, die Lese-App geöffnet und zu lesen begonnen hatte, Frequenz und Tonlage gewechselt? Aber so, wie ich die Blicke deutlich spürte, erahnte ich das Gespräch, schüchternes Lachen, ein gegenseitiges Anstupsen, Aufmuntern, dann zögern und dann wieder gegenseitiges Ermutigen. Es störte mein Lesen, ich nahm nicht auf was ich las. Es ging mir auf die Nerven.


Ich drehte mich um: „Mädels, alles toll. Aber ich bin doch viel zu alt für euch“.

Die Frauen stutzten, dann lachten sie, dann redeten sie auf mich ein, wobei sich eine sehr weit vorbeugte, die andere fuchtelte mit den Armen. Natürlich verstand ich nicht, was sie sagten. Es ging durcheinander, es war in der Bahn. Einzelne Worte und Gesten kamen bei mir an. Ich versuchte zu beschwichtigen  – natürlich machte mich das an, aber der Altersunterschied und dann gleich zwei Frauen – mit den Mädels, das war nicht so gemeint – klar, Frauen – was heißt denn alt, ich hab doch gesagt ihr seid zu jung für mich – ich hab damals, vor 45 Jahren, in einer WG gelebt, da lag die „Emma“ immer auf dem Tisch, „Courage“ auch, ich glaub von der ersten Ausgabe an – ich bin praktisch der neue Mann… Leute guckten, ich bekam das Gefühl, wir redeten aneinander vorbei, das ging in die falsche Richtung.– So geht das nicht. –


Ich  blickte auf mein Mobiltelefon, der Bildschirm war inzwischen schwarz, mit Maske keine Gesichtserkennung, ich tippte den Code, vertippte mich, von vorn, das ging zu langsam, das Display wachte auf und zeigte den Text bei dessen Lesen ich gestört worden war. Ich wischte ihn weg, startete die Hörgeräte-App, „kein Hörgerät verbunden“, die Verbindungsbalken füllten sich zu langsam, erst links, endlich rechts, die redeten mit mir, ich verstand nichts, es dauerte ewig, ich wurde hektisch, zittrig, endlich die Verbindung der App zu den Hörgeräten, jetzt die richtige Einstellung für Gespräche in der Bahn, wie immer beim ersten Mal daneben getippt.


Die beiden Frauen lehnten sich in ihren Sitzen zurück und verstummten. Eine blickte aus dem Fenster. Die Bahn hatte gehalten, hinter dem Sitz der beiden öffneten sich die Türen und herein drängte eine Gruppe von uniformierten Frauen: weite, weiße T-Shirts mit dem Slogan „Team Braut“ über Pullovern, pinke Leggins. In den Händen hielten sie Getränkedosen und eine Frau trug einen großen Bluetooth-Lautsprecher wie eine Umhängetasche.

Die Dröhnung aus dieser Box erreichte mich praktisch gleichzeitig mit einer schrillen Rückkopplung meiner Hörgeräten, da ich endlich die richtige Einstellung gefunden, doch die Lautstärke etwas zu weit hochgezogen hatte.

Selbst maskiert muss mein Gesicht den Schmerz gezeigt haben, denn die Frau an der Spitze der Gruppe beugte sich direkt zu mir.

„Gefällt dir die Musik nicht?“ Sie fragte sehr laut, eigentlich schrie sie. Ich schrie zurück: „Was ist das denn? Ist das Musik?“

„Hey Mann, warste nie auf’m Ballermann? Das ist Ikke Hüftgold mit ,Dicke Titten/Kartoffelsalat’.“

Sie hielt Prosecco-Dose hoch über den Kopf, setzte zu einer Pirouette an, brach aber sofort ab, um mit einem kleinem Ausfallschritt das Ruckeln der anfahrenden Bahn auszubalancieren und sah wieder zu mir:

„Ist jetzt auch nicht die Musik, die ich zu Hause höre, aber für ne Party ok.“

„Schätze, man muss mit dem Alkohol auf dem Level sein. Kenne das als Zugezogener vom Karneval. Also vor 30 Jahren. Hab da zwei oder dreimal mitgemacht.“

„Ach was, einfach mitmachen, dann kommt die Stimmung.“

„Es gibt Schmerzgrenzen, obwohl der Schmerz natürlich zum Leben gehört.“

„Philosophie, oder was? Was würdest du denn für Musik vorschlagen?“

„Wie wär’s mit Zappa ,Titties n Beer’?“

„Zappa, kenn ich nicht? Biste da ein Fan von?“

„Nee, nicht direkt, dachte nur, wenns was mit Titten sein soll.“


„He, he, he, das ist aber ganz schön forsch für dein Alter. Das wollen wir besser nicht weiter vertiefen.“


Bevor ich erklären konnte, wer Frank Zappa war, wie ich zu seiner Musik stand und was meine Lieblingsmusik ist, drehte sie sich um und mischte sich in des Gespräch der anderen Frauen. Wenn ich es richtig deutete, ging es darum, wieviel Stationen noch bis zum Aussteigen.


Normalerweise lese ich auf der Strecke. Irgendwann registriere ich dann verwundert, dass wir schon unter der Erde sind und irgendwann, dass wir wieder oben sind. Und dann kommt bald die Endstation.


Manchmal steige ich vorher aus, weil ich gern ein Stück gehe. Diesmal beschloß ich weit vor der Endstation auszusteigen, Wetter und Stimmung waren gut, und auf der Strecke liegt mein liebstes Eiscafé.


Die Bahn hatte schon gehalten, als ich aufstand und mich hastig durch die Partygruppe zur Tür bewegte. Hinter mir drängelte jemand, der auch zu spät aufgestanden war. Als ich mich in der offenen Tür umdrehte, um zu checken, ob ich vielleicht laut „Tschö“ rufen sollte, knallte ich frontal in einen Mann der gerade einstieg. „Erst aussteigen lassen, dann einsteigen“, rief der Mann, der in meinen Rücken stieß.

„Biste schwul oder was?“ raunzte der Einsteiger.

„Nicht wirklich“ zwängte ich mich an ihm vorbei. – Das war viel zu freundlich! – „Erstens kann man auch beim Einsteigen die Augen offen haben, und zweitens was ist denn das für eine bescheuerte Frage?“


„Was heißt denn ‚nicht‘ wirklich?“ fragte der Mann, der nach mir ausgestiegen war und jetzt neben mir ging.

„‚Nicht wirklich‘ heißt, nichts gegen die Vorstellung von schwulem Sex, aber das er mit Männern stattfindet ist einfach nicht prickelnd.“

„Ach, komm, seien Sie nicht so. Sie wissen nicht wirklich, was Sie da verpassen. Vielleicht mal probieren.“


Ich musste abbiegen. Das beendete unser Gespräch abrupt.  Nach der erlebnisreichen, aber maskierten Bahnfahrt,  belebt von frischer Oktoberluft, stieg meine Laune wie die Gehgeschwindigkeit rasant. – Wahnsinn, war heute der Tag des Flirts? – Als ich um die Ecke bog sah ich eine kleine Gruppe Menschen, die vor dem Café warteten. Üblicherweise reihen sich die Leute hier auf, manchmal bis um die nächste Straßenecke, als wäre es das einzige Eiscafé weit und breit. Näher dran, entpuppten sich die Wartenden als geschlossene Sonnenschirme. Es passte also wieder, was für ein Tag! Ich hätte vor Freude jauchzen können und vergaß in meiner Begeisterung die Maske aufzusetzen. Ich betrat das Eiscafé und stand als einziger vor der Theke.


„Fleisch? Was ist denn das für eine Eissorte?“

„Oh, das ist neu. Wir haben jetzt einige Sorten Fleisch als Geschmacksrichtung.“

„Hm, ich ess kaum noch Fleisch und als ich mal das letzte mal ein Steak gemacht habe, war ich richtig enttäuscht. Geflügel geht auch gar nicht mehr.“

„Probieren Sie’s. Es wird Ihnen gefallen, das kann ich Ihnen versprechen. Das besondere ist, das Fleisch wird nicht schmecken wie es sie heutzutage enttäuscht, sondern es wird schmecken, wie zu Zeiten als es nichts besseres gab.“

– Vor 45 Jahren, nach der Spätschicht. High von literweise Kaffee und dem halben Pils in der Pause, auf die B68, dann im Konvoi über die Dörfer. Da gab es diese Kneipe, Tipp von einem Kollegen, wo es um die Zeit noch zu Essen gab und Steaks als Spezialität. Zum ersten Mal Steak, das war damals eine Offenbarung.  – Ein Angebot diese Sensation auf der Zunge zu wiederholen, konnte ich nicht ausschlagen.

„Also gut. Ich nehm das Steak.“

„Waffel oder Becher.“

„Waffel. Aber halt, das Steak muss oben drauf. Das Dessert bitte als erstes in die Waffel.“

„Wie Sie wünschen. Und was darf es sein?“

„Bitte eine große Kugel sahniges Vanilleeis, durchzogen von zarten Adern fruchtigstem Orangensorbets. Und dazu eine Kugel ,Green Tea Tempura’.“

„Sehr gerne, man merkt den Kenner. Und wie möchten Sie das Steak, medium oder gut durch?“

– Gut durch, das ist das Stichwort seit der Transplantation. Nichts rohes, kein Steak, Mett, Sushi, kein Rohkäse. Aber nicht hier und jetzt.

„Englisch bitte, raw. Auf dem Teller würde man nach dem Anschneiden ein kleine Pfütze But sehen.“

„Oh, selbstverständlich, sehr, sehr gute Wahl.“

Er drehte sich um und langte in eines der Eisfächer im hinteren Regal mit den seltener bestellten Sorten.


Beglückt, und unter symphonischem Jubilieren meines Tinnitus erweiterte ich meinen Heimwegsparziergang um einen Bogen am Rhein entlang. Die Bäume am gegenüberliegenden Ufer reflektierten die Oktobersonne silber und weiß, sehr feierlich, lange Schatten kündigten vom nahen Ausklang dieses Tages.


Etwas vibrierte und juckte im rechten Oberarm. An der Impfstelle spürte ich eine leichte Erwärmung. Gleichzeitig fühlte ich im Hörgerät diese kleine Druckveränderung, Über- oder Unterdruck? Auf jeden Fall wie dieser kleine Moment, wenn das Hörgerät aus dem Standardbetrieb auf  Telefon- oder Musikstreaming umschaltet. Mein Sichtfeld verpixelte leicht, aber nicht in der Art, von der ich weiß, dass es das beste ist, mich für eine halbe Stunde auf die Couch zu legen, sondern mehr wie Special Effects bei einem Szenewechel in einem Film, wenn ein Rückblick, eine Erinnerung oder so kommt. Das Wohnzimmer verschwand in der Verpixelung, die Verpixelung klärte auf und es erschien ein Text, den eine sehr angenehme Stimme vortrug.

– Dies sei nun der erste Tag nach der Impfung gewesen. Es habe mir hoffentlich gefallen. Ab morgen jedoch müsse ich mich entscheiden, ob ich meine Tage zuzahlungs- oder werbefrei gestalten möchte. Beim zuzahlungsfreien Tagesablauf müsste ich allerdings das gelegentliche Einspielen von Werbung akzeptieren. Diese würde jedoch, weil perfekt auf meine jeweilige Tätigkeit abgestimmt, nahezu störungsfrei sein. Viele empfänden sie sogar als informativ. Sollte ich mich für den werbefreien Tagesablauf entscheiden, stünden verschiedene Abo-Programme zur Auswahl. Alle Programme liefen bis zur 4. Impfung. Die Details würden mir zum Frühstück vorgestellt werden. Jetzt gebe es noch ein besonderes Geschenk zum Einstand, danach solle ich mich schlafen legen.

Mit dem Verpixelung-Special-Effect verblasste der Formulartext und eine Folge von abstrakten Formen in warmen Farben schwebte langsam durch mein Gesichtsfeld. Mich erfaßte eine Musik. Nach dem ersten Takt, ach was, nach dem ersten Ton, erkannte ich Miles Davis mit „So What“ von „Kind of Blue“. Und es war genau wie früher, als wir um den Küchentisch sassen und über den Trompetenton sinnierten, der keinen Anfang und kein Ende hat, den man nicht mit den Ohren hört, sondern über das Rückenmark ins Bewusstsein steigt, wie kann das sein?

Ich weiß nicht, wie lange ich Musik und Bilder fühlte, bis die sehr angenehme Stimme verkündete, dass zum Abschluss unseres ersten gemeinsamen Tages eine kostenlose Tantramassage folgen werde. Wieder erschien ein Formular, es listete verschiedene Extras auf und endete mit der Frage, wie ich die massierende Person wünsche (m/w/d).


Jetzt liege ich auf der Couch und atme ruhig und tief der Massage entgegen.

Ich freue mich.


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