Veröffentlicht im März 2021
Am 27. Oktober 2015 wurde mir eine neue Niere eingesetzt.
Vorher war ich fast sieben Jahre lang 3 x die Woche in ein Dialysezentrum gefahren, wo eine Maschine die Nieren ersetzten sollte.
Eine langandauernde Entzündung hatte mit zu vielen Proteinen zu lange die Nieren traktiert. Zu groß für das feine Filtergewebe hatten sie dieses durchlöchert und langsam zerstört. Die Nieren verkümmerten, vernarbten und verloren nach und nach ihre Funktionen: sie reinigten das Blut nicht mehr von Giftstoffen, zu viel Einweiß landete im Urin. Das Gift sammelte sich im Körper. Ich war immer schwach gewesen, doch wurde in den letzten Jahren vor der Dialyse noch schwächer, schlaffer. Dies war die Zeit in der es auf die Dialyse zuging. Alles war mit Schwere infiziert, alles zog und zerrte nach unten. Einmal in Bewegung gekommen, schien es als könnte ich diese Schwere vergessen, aber sobald ich eine Aufgabe erledigt hatte, die Spannung nachließ, nach der Arbeit, in der Pause oder einer Unterbrechung, wurde ich von Trägheit niedergedrückt. Jeder Gedanke an etwas, dass gleich oder morgen zu tun sei, sank bleiern in den Körper. Ein Plan war Grauen, der Terminkalender eine Horrorvorstellung. Eine andauernde Müdigkeit haftete an mir. Diese Müdigkeit konnte ich nicht mit Ausruhen vertreiben. Ruhen machte nicht munter, ein richtiges „Ausschlafen“ nicht möglich. Einige Wochen bevor die Dialyse begann, ließ diese Müdigkeit ein Schlafen ohne Erwachen als eine sanfte Möglichkeit ahnen, als ein schmerzfreies Schweben ins Nichts.
Am 8. Januar 2009 hatte ich dann das erste Mal dialysiert.
Später Nachmittag. Ich trat gerade aus dem Friseurladen als das Telefon klingelte. — Die Laborergebnisse von vorgestern seien da. Es sei soweit, ich müsse zur Dialyse. Morgen früh um 8 solle ich ins Dialysezentrum kommen. Bitte nicht selbst Auto fahren! Nicht die Straßenbahn nehmen! Rufen Sie ein Taxi! Dringend, ich solle mir ein Taxi bestellen —.
Am anderen Morgen machte ich mich auf den Weg zur Haltestelle der Straßenbahn, aus Trotz oder im Tran, ich weiß es nicht mehr. Auf dem Weg schlug ich einmal lang hin. Mit aufgeschrammter Wange und blutigem Kinn erschien ich im Zentrum, einiges Aufsehen erregend, zu meiner ersten Dialyse.
Fast sieben Jahre später. Die Dialyseschwester weckte mich vor dem regulärem Ende meiner Nachtdialyse. —Es gebe eine Niere für mich. In einer Viertelstunde würde ich von der Maschine genommen. Mein Taxifahrer wäre informiert. Ich solle nach Hause fahren, meine Sachen holen und mich dann schnellstmöglich ins Transplantationszentrum begeben.— Eine leise, feierliche Aufgeregtheit, ist dies der Abschied aus der Dialysestation? Fast sieben Jahre, 3 mal die Woche 8 Stunden hatte ich hier verbracht — 8 Stunden, wenn ich nachts dialysierte, was meistens der Fall gewesen war. —Ein neues Leben? Die Schwestern, die Bettnachbarn, geweckt aus ihrem leichten Schlaf, alle wünschten mir Glück und dass es diesmal klappe. Es war für mich der zweite Anlauf. Das erste Mal, zwei Jahre zuvor, hatte mich der Anruf im Taxi auf der Fahrt zur Dialyse erreicht. Es gab eine „Full House-Niere“. Die Übereinstimmung aller Gewebemerkmale so komplett, das Risiko einer Organabstoßung so minimiert, wäre ein Erfolg sehr wahrscheinlich gewesen. Das „Full-House-Match“ und meine nach anderen Kriterien gesammelten Punkte (Wartezeit, Entfernung vom Entnahmeort z.B.) hatten mich auf der Eurotransplant-Warteliste nach vorn gerückt. Als ich im Transplantationskrankenhaus eingecheckt, die ersten Untersuchungen hinter mich gebracht hatte, kam die Nachricht, dass die Niere wegen einer späten Blutvergiftung untauglich geworden war. Die perfekte Übereinstimmung hatte nichts genutzt.
Beim zweiten Anlauf sollte es klappen. Ich fuhr nach Haus, goß die Pflanzen, schrieb SMS und Mails, stellte W-Lan ab, zog alle Stecker, checkte nochmal kurz meine gepackte Tasche, checkte noch mal ob ich alle Stecker gezogen hatte, prüfte ob ich wirklich alle Pflanzen gegossen hatte, alle Ladegeräte in der Tasche, nochmal nachsehen ob ausreichend Batterien für die Hörgeräte dabei, und rief ein Taxi.
Ich war cool, nur ein wenig nervös, aber eigentlich cool. Auf der Fahrt rätselte ich, heißt das Brötzmann/Bennik-Album „ein halber Hund kann nicht pissen“ oder „ein halber Hund kann nicht pinkeln“. Meine Gedanken kreisten mit der Frage. War es 1976, 77 oder 78? Beim Muckum-Musikfestival hatten wir hinter unserem Zimbabwe-Solidaritätsstand (Zimbabwe = damals Rhodesien, ein international nicht anerkannter Apartheidstaat) gesessen und auf Brötzmann gewartet. Das Festival-Programm war zu Ende, es war dunkel, nieselte es leicht? Immer wieder brachen einzelne oder kleine Gruppen auf und verliessen die Wiese. Wir hatten keine Flugblätter mehr zu verteilen, niemand kaufte die ausgelegten Broschüren. Wir warteten, weil eine Frau am Stand Brötzmann schon mal gehört hatte und ein Erlebnis versprach. Brötzmann kam zu spät. Wollte dann nicht auftreten bevor er die Gage in der Hand hatte. Das war die Gerüchtelage.
Gut, dass selbst im Taxi Google hilft. Das Album heißt „Ein halber Hund kann nicht pinkeln“.
Nach der Transplantation würde ich wieder pinkeln können. Ein unglaubliches Gefühl, hatte mir ein früherer Bettnachbar erzählt, ein Gefühl wie ein Orgasmus, wenn nicht besser.
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Anfangs unsicher ob ich mich auf die Eurotraplant-Warteliste setzen lassen sollte, hatte ich gezögert. Was sprach dagegen? Meine Multiple Sklerose war gut eingestellt, seit langem hatte ich keinen Schub erlebt. Gab es ein langsames Fortschreiten der Multiple Sklerose? Wenn ja, dann nicht so, dass ich es bis dahin bemerkt hatte. Mit der Transplantation würde der Körper ein neues Organ an neuer Stelle, im Unterbauch vorn, bekommen und sich daran gewöhnen müssen. Wie würde die Multiple Sklerose auf diesen Streß reagieren? Eines meiner MS-Symptome ist ein breiter Gürtel der auf den Oberbauch drückt. Selbst bei guter immunologischer Verträglichkeit des neue Organs müßte eine mögliche Abwehrreaktion vorsorglich medikamentös unterdrückt werden. Lebenslang. Wie würde das mit dem MS Medikament zusammengehen?
Ich hatte die Dialyse gut vertragen und fühlte mich gut. Bei den drei oder vier Urlauben, in denen ich in einem anderen Zentrum dialysiert hatte, waren die Ärzte ob meiner sehr guten Werte erstaunt. Die lange Nachtdialyse sorgte für bessere Blutwerte als die üblichen 4 oder 5-Stunden-Dialysen. Bei der Dialyse gilt, je länger, je besser.
Ein weiteres Bedenken: Eine neue Niere hält nicht ewig - wie lange würde sie halten, wie wird sie abbauen und zerfallen? Die Ursache des Versagens der alten Nieren war nicht behoben, der Entzündungsherd nicht gefunden und gestoppt. Würden die Entzündungsproteine auch das Gewebe der neuen Niere zerstören? Auf keinen Fall wollte ich die Erfahrung der letzten Jahre vor der Dialyse noch einmal durchleben, dieses Dahinschleppen, diese dösige Trägheit, dieses Bewegen wie eingepackt in schwerer Watte, gelegentlich aufgeputscht von Eisen- und Epo-Infusionen, — Epo ist eine Wunderdroge, aber es hält einen nicht ewig am Laufen— begleitet von Untersuchungen, Labor, Zahlenkolonnen, Besprechungen, Diäten, wechselnden Medikamenten, bis endlich wieder„jetzt Dialyse“.
Andererseits: Die Dialyse zwingt dem Leben einen eisernen Takt auf. Jedes Spiel das man sich gegen ihren Takt erlaubt, greift die Gesundheit an. Man muss mit dieser Disziplin leben und sich ihr unterwerfen. Man wird nicht glücklich wenn man vor jeder Dialyse hadert, sich sträubt, bedauert was man jetzt gerade unterbrechen muss, nicht tun und erleben kann. Es ist jedoch gleich wie gut man mit der Dialyse klarkommt, die dazu gehörigen Medikamente verträgt, die Dialyse kann die Nieren nicht gleichwertig ersetzen. Selbst 3 x 8 Stunden in der Woche, wie in meinem nahezu idealem Fall in der Nachtdialyse, sind weniger als 7 x 24 Stunden in der Woche durchblutete Nieren. Es gibt Partikel die zu klein sind um von der Membrane des Dialysefilters erfaßt zu werden, sie sammeln sich im Körper. Über die Jahre vergiften auch diese Kleinstteile den Körper.
Und was den möglichen Niedergang der neuen Niere und eine dann notwendige erneute Dialyse angeht: Nochmal würde man bei mir nicht solange mit dem Beginn der Dialyse warten. Bei mir zeigte die rasche große Verbesserung meines Zustandes, das schnelle Sich-Einstellen eines neuen Wohlbefindens, dass die Normwerte, die aus tausendfach gesammelten Einzelwerten ermittelt werden, nichts über Befinden und Erleben eines Einzeln aussagen. Viele Kranke mögen dankbar sein, dass der Beginn der Dialyse so lange wie gesundheitlich vertretbar hinaus gezögert wird, in meinem Fall hätte man viel früher beginnen müssen.
So gewann dann die Möglichkeit eines Lebens ohne Dialyse gegen die Aussicht lebenslang an die Maschine gebunden zu sein.
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Im Sommer 1973 trat ich meine Lehrstelle an. Verspätet. Genauer gesagt vier Stunden zu spät. Ich hatte verschlafen, sehr tief und lang. Ich wollte Drucker werden. Der Betriebsleiter, überrascht das ich überhaupt noch kam, wir hatten kein Telefon und ich meine verspätetes Eintreffen nicht angekündigt, war erfreut auch die zweite Lehrstelle besetzen zu können. Doch meine vorgesehene Lehrstelle war inzwischen vergeben. Er hatte den anderen Lehranfänger, der Schriftsetzer hatte lernen sollen, dazu überredet die Druckerstelle anzutreten. Ein Druckerlehrling war dringender benötigt worden. Kurze Rücksprache mit dem andern Lehrling — er bliebe wohl gerne im Drucksaal, da könne ich Schriftsetzer lernen. —
So begann meine Schriftsetzerlehre.
Dem Ausbildungsbeginn folgte in der ersten Monaten die Lehrlingsvorsorgeuntersuchung. (Ich glaube heutige Auszubildende müssen ihre ärztliche Eignungsbescheinigung zum Ausbildungsantritt mitbringen).
Bei meinem Druckerkollegen wurde eine Farbsehschwäche diagnostiziert - Rot/Grün. Das war kein Hindernis für die weitere Ausbildung. — Farbenblind? „Druckerschwärze“ wurde auf das Papier gebracht. Wer braucht denn Farbe? Was und wann wurde denn in Farbe gedruckt? Die Schmuckfarbe ab und zu auf einem Plakat oder einem Briefbogen sollte kein Problem sein. — Selbst illustrierte Wochen- und Monatszeitschriften waren nicht durchgängig farbig - und wurden ausserdem von anders spezialisierten Druckern hergestellt, nicht im klassischen Buchdruck. (Kurzer Einschub: Buchdruck bezieht sich nicht auf das Druckern von Büchern, sondern auf das Druckverfahren mit erhabenen Lettern, Linien, Klischees, kurz all dem was druckt.) Bei mir brachte die Untersuchung ein Nierenproblem ans Licht. Es begann eine kleine Reise durch Arztpraxen und Krankenhäuser. Wieso war ich in Gütersloh? Von Bünde aus an Herford und Bielefeld vorbei nach Gütersloh zum Spezialisten. Keine Erinnerung an Arzt und Ergebnis, aber eine deutliches Bild vom langen Warten auf dem Bahnhofsvorplatz. Zwei kurze Krankenhausaufenthalte in Bünde und Herford, eine Gewebe-Entnahme aus der Niere und die Diagnose einer Entzündung.
Die Diagnose hatte zunächst keine Folgen. Die Ausbildung konnte ich fortsetzen. Befürchtungen wegen meiner häufigen Abwesenheit in der Probezeit waren unbegründet. Später verzichtete die Bundeswehr nach Vorlage des Arztbriefes auf meine Einberufung.
Meine Niere oder irgendetwas drumherum war also krank. Also war ich krank? Ich fühlte mich nicht krank. Ich bemerkte nicht, das in mir etwas wirkte wie es nicht sollte, es war nichts anders, als es immer gewesen war. Wäre diese Vorsorgeuntersuchung nicht obligatorisch gewesen, wäre ich nicht zum Arzt gegangen. Von den Ärzten aber gab es keine wirkliche Erklärung, keine Behandlung und keine Prognosen. Etwas war da, von dem niemand wußte woher es kam, wie und wozu es sich entwickeln würde, wie lange es dauert.
Fortsetzung folgt
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