Veröffentlicht im März 2021
Vor fünf Jahren habe ich eine neue Niere bekommen. Die ersten Jahre nach der Transplantation fing jeder Tag mit einer kleinen Euphorie an. Fast unheimlich. Die tägliche Dosis Kortison hat bei manchen Menschen diese Wirkung. Kortison als Entzündungsverhinderer gehört bei Menschen mit transplantierten Organen, wie auch Immunsystemunterdrücker, Organabstoßungsverhinderer, zu den täglichen Mitteln zum Leben. Lebensmittel.
Wenn mich jemand vor Ende des Jahres 2019 nach meinem Befinden gefragt hat, war meine vollmundige Antwort, dass ich mich fit und mindestens 20 Jahre jünger fühle.
War nicht sogar meine Multiple Sklerose verblasst? Seit der Transplantation kein richtiger Schub mehr. Was beschädigt ist bleibt beschädigt, aber es scheint auch stückweise nichts dazuzukommen.
Verjüngten mich mit meine Übungen nicht geradezu? Hatte ich nicht nach Jahren ernsthaftem Qigong und ausgedehnter Spaziergänge ein Gleichgewichtsgefühl, eine Beweglichkeit, eine Rundum-Fitness, ein Wohlbefinden wie seit mindestens 20 Jahren nicht mehr?
Täglich zu festen Zeiten Tabletten einnehmen, vierteljährliche Untersuchungen und vorher 24-Stunden Urin sammeln, eimal jährlich das gleiche im Transplantationszentrum, die verschiedenen Vorsorge- und Kontroll-Untersuchungen (im Turnus nicht ganz so regelmäßig und dicht wie von den Nephrologen empfohlen), die MRTs für die MS-Kontrolle, all diese Beeinträchtigungen hatte ich einigermaßen routiniert in den Alltag eingebaut. Ich sträubte mich nicht, ich wehrte mich nicht innerlich dagegen, es gehörte dazu. Ich hatte dies als meine Lebensumstände akzeptiert. In meinem Wohlbefinden wußte ich, welche Verbesserung dies gegenüber den Jahren der Dialyse war. Und die Jahre der Dialyse waren eine große Verbesserung und Erleichterung gegenüber den Jahren des Niederganges und des Verfalls vor der Dialyse gewesen.
Dann lag ich Ende letzten 2019 fast 4 Wochen mit Durchfall flach. Die ersten drei Wochen sträubte ich mich gegen eine Einweisung ins Krankenhaus und fuhr stattdessen jeden zweiten Tag in die nephrologische Praxis. Untersuchungen, Werte überprüfen, Infusionen zum Ausgleich der Flüssigkeitsverlustes. Eine Ursache wurde nicht gefunden. Nachdem der Durchfall mein Darmmikrobiom schwer mitgenommen hatte, verhinderten meine Medikamente, dass der Durchfall aufhörte. — Schließlich war ich so ausgelaugt, dass ich eines Morgens statt in die Arztpraxis doch in die Klinik fuhr.
Im Transplantationszentrum hatten sie mich vor 5 Jahren auf so etwas vorbereitet. Im Gespräch über ein Leben nach der Transplantation hatte eine Krankenschwester gewarnt, dass ich nicht einfach normal gesund sein werde; jede Infektion werde schwerer sein und länger dauern, eine Erklärung statt einer Woche zwei. Andere mögen eine Magen/Darm-Infektion in einem verlängertem Wochenende auskurieren, für mich werde das 2 Wochen Krankenhaus bedeuten.
Fast so ist es gekommen.
Die Erholungsphase fühlte sich länger an als die nach der Transplantation. Als ich wieder fit war, begann der erste Corona-Lockdown. (Sofern man die Einschränkungen so nennen will.) In diesem Jahr erinnerten noch zwei weitere kleinere, aber sehr schmerzhafte Krisen daran, dass ich mit einer eingesetzten, fremden Niere nicht einfach ein gesunder Mensch bin.
Was ist ein gesunder Mensch? Was ist Gesundheit? Gesundheit entzieht sich einer genauen Beschreibung. Ist jedes Wohlbefinden Ausdruck von Gesundheit? Ist jedes aus dem Gleichgewicht schwanken Krankheit? Wie lebt man mit Krankheit? Mit chronischer Krankheit.
Im vergangenen Jahr, infolge der Covid 19 Pandemie, hat der Begriff „Vorerkrankung“ eine Karriere aus dem Fragenkatalog zu Versicherungsverträgen und ihrem Kleingedrucktem in das Zentrum politischer Debatten gemacht.
Bestimmte Vorerkrankungen schaffen eine Empfindlichkeit, Anfälligkeit oder gar eine Wahrscheinlichkeit für weitere Erkrankungen. Es gibt nun Vorerkrankungen die für Covid 19 besonders ungünstig sind, sei es was die Empfänglichkeit oder die Schwere des Verlaufs einer möglichen Erkrankung angeht.
Aber die Möglichkeit der Erkrankung (nicht nur Covid 19) tragen wir alle in uns. Es ist dies eine andere Möglichkeit als z.B. die eines Lottogewinnes. Ein viertel der Menschen in Deutschland spielen zumindest gelegentlich Lotto. Aus einer Vielfalt an Möglichkeiten sich zu beschäftigen, Geld auszugeben oder auch nicht, wählen sie die des Lottospielens. Sie tun dies mit der Hoffnung auf Gewinn. Wirklich? Mit der ganz, ganz schwachen Wahrscheinlichkeit des Gewinns erlauben sie sich das Träumen vom Glück, von einem eigenem Haus, einem neuen Auto, einer Weltreise, was auch immer; dafür zahlen sie freiwillig eine Steuer und die Gewinne der Betreiber. (Ca. 40 % des Preise des Lottoscheines ist Steuer).
Mit der Krankheit verhält es sich radikal anders. Hier geht es nicht um eine gell scheinende Möglichkeit mit einer nur schwach schimmernden Wahrscheinlichkeit eines von aussen zugetragenen Glücks. Hier geht es um eine Möglichkeit, die in uns schlummert. Wir alle tragen nicht nur die Möglichkeit der Krankheit, diese Möglichkeit wird im Laufe unseres Lebens in uns allen realisiert, aus der Möglichkeit wird eine Tatsache werden. Alle werden wir krank, mehr oder weniger häufig, mehr oder weniger schwer, vorübergehend oder dauernd. Dem Lebensende geht oft eine Krankheit voraus.
Wir wissen um unsere Sterblichkeit, auch wenn wir uns das im Alltag nicht immerzu vergegenwärtigen. Es spielt keine Rolle ob wir Sinn suchen, finden, Zeit vertreiben, zerstreuen, verdrängen, glücklich sind oder verzweifelt, sehr auf unsere Gesundheit achten oder sie vernachlässigen - all dies geschieht vor dem Hintergrund das unser Leben endlich ist. Wir leben dem Tod entgegen. Zur Fülle des Lebens gehört, dass das Wissen um unsere Endlichkeit immer wieder akut in unseren Alltag einbricht. Nicht abstrakt, sondern ergreifend, als Trauer, als diffuse Angst, als dunkle Ahnung oder als Unruhe, die uns nicht schläft. Der Tod von Familienangehörigen, Freunden, Bekannten, gelegentlich von Prominenten aus den Medien kann diese Gefühle auslösen. Manchmal erfahren wir, dass sie infolge einer Krankheit gestorben sind. Auch eigene Krankheit, ein Verkehrsunfall oder ein gerade noch verhinderter, kann uns plötzlich vor Augen führen, wie schwach ins Leben gehalten wir sind, wie dünn das Band zwischen und dem Nichts ist. Nicht jede Krankheit ist schwer. Doch jede Krankheit bezeugt unsere Verletzlichkeit und unsere Gefährdung, deutet unsere letztliche Hinfälligkeit an.
Das „heit“ in „Gesundheit“ und „Krankheit“ stand ursprünglich für „Art“, „Weise“. Es ist dies die Art und Weise unseres Seins. Krankheit bedeutet also die Art und Weise unseres Daseins. Krank sein heißt schwach, kraftlos, leidend, verfallend sein, heißt nicht gesund sein. Es geht mir hier nicht um Definitionen, also zum Beispiel: Symptom xy galt früher als Symptom einer Multiple Sklerose, heute gilt es dagegen als Krankheit XY; Verhalten z kam früher einfach vor, man lebte damit, heute gilt es als Krankheit Z. Es geht mir um einen Verlust an Balance, ein Ungleichgewicht, eine Störung. Dieses gelegentliche aus dem Gleichgewicht geraten kann keine Karriere-, keine Lebensplanung und/oder -beratung verhindern.
Nicht unterkriegen lassen, positiv denken, aktiv bleiben, natürlich leben, man selbst bleiben, probier doch mal Akupunktur, TCM, Homöopathie, Naturheilkunde… — Medial sind Kranke und Gesunde in Ratschläge eingebettet oder sind es Forderungen?
Hilft das? Kann man krank leben und man selbst bleiben. Niemand ist nur die Krankheit, aber doch hat die Krankheit einen. Man ist nicht die Person, die man ohne Krankheit war. Man ist diese Person geschwächt und gehemmt durch Krankheit. Unweigerlich tönt die eigene Schwäche alle Erfahrungen, den Zugang zur Welt und wie man sie sieht. Die kranke Person ist die Person mit den gestörten Sinnen, den gehemmten Bewegungen, dem verengten Raum, der verringerten Konzentration, der größeren Vergesslichkeit. Mehr oder weniger.
Positiv denken? Die eigenen Erfahrungen nicht mehr bedenken, sie ausklammern, von vornherein die Scheuklappen auf ein Feld verengen das sich dann „positiv denken“ nennt.
Hektisch immer neue Therapien jagen, das zumindest beschäftigt und hilft die Zeit zu füllen.
Hierzu muss ich vorausschicken, dass ich nie an der „Schulmedizin“ in dem Sinne gezweifelt habe, als dass es da eine Alternative gäbe, eine Geheimwissenschaft die von dunklen Mächten unterdrückt würde. In meiner „Kapitalismuskritik“ bin ich davon ausgegangen, dass noch jedes Mittel unter gewissen Umständen zu Geld und Kapital werden kann. Wo es sich noch nicht lohnte, keinen Profit versprach, gab es also eher zu wenig „Schulmedizin“ als zu viel. In dieser Sichtweise behinderte der Kapitalismus die Entwicklung der Medizin. Ich schreibe diese Sätze in der Vergangenheitsform, weil sie meine Haltung zu Beginn meiner Krankheitskarriere skizzieren.
Heute werden immer spezialisierter Organe, Symptome, Krankheiten analysiert, eingeordnet, therapiert. Doch es ist ein weiter Weg von diesen Details wieder zum ganzen Menschen zurückzukommen. In meinem Fall: sowohl meine Multiple Sklerose als auch meine Niereninsuffizienz sind Ergebnisse eines defekten Immunsystems. Statt ihn zu schützen, richtet sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper. Es liegt auf der Hand, dass meine Autoimmunkrankheiten im Immunsystem zusammenhängen. Aber wie weiß niemand. So kann denn auch nicht das Immunsystem behandelt werden. Und wo wiederrum kommt der Defekt des Immunsystems her? Unser Wissen ist sehr begrenzt und selbst wenn wir mehr wissen werden, heutige Irrtümer korrigiert sein werden, werden wir notwendig nur begrenztes Wissen haben und wird es neue Irrtümer geben.
Wie von der „Schulmedizin“ war ich nie von der „Gerätemedizin“ eingeschüchtert. Eher fehlen ausführliche Gespräche und manchmal Erläuterungen. Ein wenig mag das mit den Affinitäten von Ärzten zu tun haben, die mit den Geräten hantieren. Das gilt allgemein, sozusagen vom Hören und aus den Medien, ich selbst kann mich da (auch als Kassenpatient) nicht groß beklagen. In diesen Komplex spielt natürlich verstärkt die ökonomische Verdichtung jeder Tätigkeit, Sparzwang, Politik usw. hinein. Sicher hilft es viel Geld zu haben, um den Nachteilen auszuweichen.
Dennoch: ich wäre mit meinem Krankheitsprofil nirgendwo in der Welt besser aufgehoben als in Westeuropa, krankenversichert und mit Zugang zu allen möglichen Spezialisten.
Zu diesem Thema Gesundheit/Krankheit will ich mir ein paar Gedanken machen anhand meiner Erlebnisse. Das soll keine chronologische Krankengeschichte werden und ich kann mich sicher nicht richtig an alle Details erinnern. Das ist auch nicht das wichtigste. Wir ziehen die Lehren aus unseren Erfahrungen nicht, indem wir uns jeden Abend hinsetzen und darüber nachdenken was uns der heutige Tag gelehrt hat. In der Regel lernen/denken wir im Vollzug unseres weiteren Lebens. Die getönten Erinnerungen sind ein Denken in dem Erfahrungen schon eingeflossen sind. Oft können wir uns weniger ein genaues Geschehen in Erinnerung rufen als ein mehr oder weniger starke Gefühlslage, eine Stimmung. Wir wissen was wir nicht noch einmal wollen, aber nicht mehr im Detail woraus wir das gefolgert haben. Das gilt für das Alltägliche. Es gibt natürlich immer Ausnahmen und auch Tagebuchschreiben mag sie Sache etwas verlagern.
Diese Website soll keine Chronologie liefern, keinen zusammenhängenden Ablauf beschreiben, stattdessen Erinnerungssplitter und ein Gleiten von einzelnen Splittern in Autofiktion und zurück. Symptome, Krankheitsgeschehen, Umgebung, Einschnitte die eine Orientierung, eine Um- oder Neuorientierung forderten.
Die Website ist ein Anfang, mehr eine Idee, als dass deren Realisierung hier schon vorläge. Falls euch die Themen interessieren, bitte wiederkommen. Ich hoffe nach und nach hier zu den angesprochenen Themen Texte zu veröffentlichen.
Die Phänomene Gesundheit/Krankheit, ihr Erleben, ihr Erfahren soll hier im Mittelpunkt stehen. Leben mit Tinnitus, die Erfahrung der Dialyse, Transplantation, chronischer Müdigkeit, die Melange der Symptome der Multiplen Sklerose.
Zu bio-chemische Reaktionen, Neurologie, Medizin und medizinische Wissenschaften kann ich wenig sagen, spielt in diesem Zusammenhang aber auch nicht die Hauptrolle.
Im Blog sind bis jetzt hauptsächlich Facebook-Buchbesprechungen aus dem letzten Jahr. Nach Lust und Laune will ich hier gelegentlich Berichte und Kommentare veröffentlichen.
Die Bilder waren als Illustration des Website-Themas geplant, sind ein wenig aus dem Plan gewandert.
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