März 2021

Peter Sloterdijk folgt den Spuren der Götter in den Geschichten ihrer Verkünder durch die Jahrtausende


„The Mariage of Heaven and Hell“ ist so etwas wie seine grundlegende Ideenschrift William Blakes. Dort las ich wenige Wochen vor dem Sloterdijk-Epos:

The ancient Poets animated all sensible objects with Gods or Geniuses calling them by the names and adorning them with the properties of woods, rivers, mountains, lakes, cities, nations, and whatever their enlarged & numerous senses could percieve.

And particularly they studied the genius of each city & country. placing it under its mental deity.

Till a system was formed, which some took advantage of & enslav’d the vulgar by attempting to realize or abstract the mental deities from their objects: thus began Priesthood.

Choosing forms of worship from poetic tales. And at length they pronounced that the Gods had orderd such things.

Thus men forgot that All deities reside in the human breast.

(Die alten Dichter belebten alle sinnlichen Objekte mit Göttern oder Geistern, indem sie ihnen die Namen und schmückenden Eigenschaften von Wäldern, Flüssen, Bergen, Seen, Städten, Nationen gaben und allem, was  ihre erweiterten und zahlreichen Sinne sonst noch wahrnehmen konnten.

Und besonders studierten sie den Geist einer jeden Stadt und eines jeden Landes und stellten sie unter ihre geistige Gottheit.

Bis sich ein System herausbildete, das einige ausnutzten und das gemeine Volk versklavten, indem sie versuchten, die mentalen Gottheiten zu erkennen oder von ihren Objekten zu trennen: So begann das Priestertum.

Sie wählten Formen der Anbetung aus poetischen Erzählungen. Und schließlich verkündeten sie, dass die Götter solche Dinge befohlen hätten.

So vergaßen die Menschen, dass alle Gottheiten in der menschlichen Brust wohnen.

(Übersetzung von mir und DeepL))

William Blake, The Marriage of Heaven and Hell,
The Complete Illuminated Books of William Blake (Kindle-Version)


Peter Sloterdijk erläutert diesen Vorgang tiefer- und weitergehend in "Den Himmel zum Sprechen bringen." Er kommt zwar nicht zu dem Schluß, dass die Götter im Menschen wohnen, das ist eher nicht sein Thema, aber er legt nahe sie aus dem öffentlichen Verkehr zu ziehen und ihnen einen Raum im privaten und in den jeweiligen religiösen Subkulturen zu zuweisen.


Darum geht es:

„Es gibt religiöse Gebilde, die, trotz ihrer evidenten poetischen Faktur, von Grund auf leugnen, Gedichte, Fiktionen, Mythen, Projektionen oder sonstwie Werke der Einbildungskraft zu sein. Sie bilden den harten Kern der »anerkannten«, zumeist monotheistisch codierten »Religionen«.“

„Es geht vielmehr um die Frage, wie es möglich wurde, daß aus Schriften von evidentem Zitat- und Kompilationscharakter sowie von unverhohlen poetischem bildersprachlichem Gepräge, hervorgegangen aus der Einverleibung früherer Dichtung und aktualisiert in performativen Neuaufführungen älterer Liturgien, gesellschaftsformende, zivilisationsbestimmende, seelenformbildende Absoluta entstehen konnten, denen es gelang, ihren poetischen, fiktionalen bzw. mythischen Charakter unsichtbar zu machen.“

Peter Sloterdijk verfolgt die Spur mesopotamischer und ägyptischer Gottesvorstellungen durch die religiöse Literatur („Theopoesie“). — Von dem einem Gott der mit dem einem Volk im Bunde war (andere Völker hatten andere Götter) zu dem einen Gott als Universalgott. Wie griechische Philosophie den verblassenden griechischen Götterhimmel ablöste und mit ihren Vorstellungen eine Gotteserzählung aus der Wüste ins taugliche für die ganze Welt übersetzt wurde.

„Unter den vormaligen Kultmoden, denen der Aufstieg in die erste Liga der generationenübergreifenden und expansiven Religio-Traditionen geglückt ist, ragen unbestreitbar das Christentum und der Islam hervor, das erste als disruptive Abspaltung vom Judentum mit anfangs ungewisser Zukunftsperspektive, der zweite als Sekundärabspaltung von jüdischen und christlichen Modellen – nach einer kurzen Phase elitärer Absonderung sichtlich entschlossen, die gewaltlose Werbung um gläubige Zustimmung mit bewaffneter Überzeugungsarbeit zu verbinden.“

Warum diese Spur erneut aufnehmen und verfolgen?

„Wie sich jüngst auf den Ozeanen gigantische Wirbel aus Plastikabfällen gebildet haben, deren biologischer Abbau Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende dauern wird, so könnten auf den Weltmeeren des Seelischen gewaltige Wirbel aus Götter-Rückständen entstanden sein, mögen sie auch seltener bemerkt werden. Deren Entgiftung und Rezyklierung ist theologisch, ethnologisch, psychologisch, kulturgeschichtlich und ästhetisch unerledigt.“

„Authentisch modern, das heißt gänzlich aus dem Geist der selbstgegebenen Verfassung animiert, wäre eine »Gesellschaft«, die alle sozial relevanten Zusatzleistungen der religiösen Überlieferung – von der Erziehung der Jugend, der moralischen Konsensbildung, über den karitativen Solidarismus bis zur Fürsorge für Kranke, Schwache, Marginale – mit systemeigenen Institutionen ersetzt hätte, ohne die fortbestehenden religionsgemeinschaftlichen Beiträge zu solchen Aufgaben zu behindern. Die vielzitierte These, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne – bekannt als das Böckenförde-Diktum (1964) –, bezieht sich auf die Ära des Übergangs vom neuzeitlichen Staatskirchensystem zur säkularen, religionspluralistischen Situation. Nach deren Eintreten entsteht – soweit westeuropäische Verhältnisse betroffen sind – das soziale Kapital nur in geringerem Maß noch aus den vorsäkularen Überlieferungen. Es setzt sich zusammen aus tagespolitischen Sensibilitäten, bürgerschaftlichen Engagements, historischen und ethnischen Kenntnissen sowie allen Formen von Solidarismus und deren Artikulationen in alten und neuen Medien. Deren Regeneration im Generationenprozeß nimmt zunehmend experimentelle Züge an; ihr Schicksal wird davon abhängen, in welchem Maß es gelingt, Rohsentimentalität aus Furcht, Ressentiment und Zuversicht in informierte Empathie, vormals Bildung genannt, umzuwandeln.“

(Alle Zitate aus dem Buch. Zusammenstellung nicht in der Reihenfolge wie sie im Text erscheinen.)

Ich hatte dieses Jahr seine Bücher „Du musst dein Leben ändern“ und „Im Schatten des Sinai: Fußnote über Ursprünge und Wandlungen totaler Mitgliedschaft“ zum zweiten Mal gelesen, was ich als gute Vorbereitung empfand. Eine Kenntnis früher Schriften ist aber nicht nötig. Sloterdijk schreibt sehr elegant, einnehmend, leicht distanziert, stellenweise mit ironischem Unterton. Das birgt die Gefahr das man zu flüssig über Passagen hinwegliest und damit deren Aussage nicht richtig erfaßt. Fast könnte man meinen die vielen Fremdwörter seien gegen zu flüchtiges Lesen eingestreut. Für Leute ohne „großes Latinum“ und „Graecum“ (wie ich) ist es hilfreich Google oder die entsprechenden Wörterbücher nahe bei zu haben. Um den Bedeutungsverschiebungen der Götter bei ihren Reisen durch die Sprachen auf der Spur zu bleiben sind die Originalbegriffe oftmals unerlässlich, aber manchmal könnte „Synkratisch“ auch einfach „Mischung“ sein.

Für mich einer der Lese-Höhepunkte des Jahres!


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